Schweizer Illustrierte: Herr Simmen, Ihre Frau rief Sie am Morgen des 15. Januar an und sagte, die Wehen hätten eingesetzt. Zwei Monate zu früh. Was löste dieser Anruf bei Ihnen aus?
Gian Simmen: Pure Angst! Mir zog es den Boden unter den Füssen weg. Als ich aber merkte, wie ruhig und gefasst Petra war, entschieden wir zusammen, dass ich in Laax bleibe, um den Wettkampf zu kommentieren.
Petra Simmen: Ich merkte einfach, dass es gut kommt. Etwas war anders als vor einem Jahr, als wir unsere Tochter verloren. Die Angst kam erst später. Die ersten paar Tage stand ich oft vor Florins Bettchen und weinte. Ich konnte mich gar nicht recht freuen, aus lauter Angst, ihn wieder zu verlieren.
Florin kam acht Wochen zu früh. Musste er in den Brutkasten?
Petra Simmen: Nein. Für sein Alter war er recht gross und schwer. Zudem war die Lunge vollständig ausgebildet. Über eine Magensonde wurde er ernährt. Da er von Beginn weg gut saugte, durfte ich ihn sofort stillen. Schon bald trank er dann die ganze Menge selber, und die Magensonde wurde hinfällig.
Hatten Sie bereits vorher öfter Wehen?
Petra Simmen: Nie! Für Florin war es offenbar einfach Zeit. Er wollte nach sieben Monaten zu uns kommen. Er hat uns so die letzten Wochen einer Schwangerschaft erspart, die vermutlich von sehr viel Angst und Ungewissheit geprägt gewesen wären. Unsere Tochter verloren wir in genau dieser Zeit der Schwangerschaft, einen Monat vor Geburtstermin.
Wie erlebten Sie Florins Geburt?
Gian Simmen: Es kam sehr vieles wieder hoch, die Erinnerung daran, wie wir vor einem Jahr ein totes Baby zur Welt bringen mussten. Aber sie half uns auch bei der Verarbeitung des Geschehenen. Und schlussendlich war es wunderschön, zwar einen kleinen und leichten, aber kerngesunden Jungen im Arm zu halten.
Petra Simmen: Die Ärzte hatten uns darauf vorbereitet, dass Frühgeburten selten schreien. Wir sollen ihn anschauen, wenn er da sei. Gott sei Dank mukste Florin trotzdem. Ich hatte Panik vor einer erneuten Totenstille nach der Geburt.
Wie lange musste Florin danach im Spital bleiben?
Petra Simmen: Gerade mal drei Wochen. Ich hätte nach einer Woche nach Hause gedurft, aber das brachte ich nicht übers Herz. Dank der Grosszügigkeit des Spitals durften wir nach dem Wochenbett noch sechs Tage in einem Familienzimmer bleiben. Danach war es okay für mich. Aber nach der ersten Woche war für mich einfach klar: Ich gehe nicht noch mal ohne mein Baby nach Hause. Das musste ich schon einmal!
Am 6. März 2010…
Petra Simmen: Ja. Ich hatte während der ganzen Schwangerschaft immer wieder Blutungen, zwei Wochen vorher musste ich ins Spital, weil ich fast einen Liter Blut verlor. Die Blutungen konnten gestillt werden, die Ärzte fanden nichts Besorgniserregendes. Nach der Entlassung und in Absprache mit den Ärzten fuhren wir nach Samedan an die Hochzeit von Freunden, wo wir Trauzeugen waren. An diesem Samstagmorgen merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Das Baby bewegte sich nicht mehr. Wir fuhren sofort ins Spital Samedan. Dort sagten sie uns, dass es sich um eine akute Plazenta-Ablösung handle und das Baby tot sei. Ironischerweise hatte das nichts mit den Blutungen zu tun, die ich vorher erlitt. Die Ärzte leiteten die Geburt ein. Ich brachte Jonina Natalina natürlich und aus Steisslage zur Welt. Sie wog 2500 Gramm und war 45 Zentimeter schwer.
Wie erlebten Sie Joninas Geburt, Herr Simmen?
Es ist ein kaum vorstellbarer Schmerz: Meine Frau liegt in den Wehen, in Kürze ist unser Baby da. Aber ich weiss, dass es nicht lebt.
Wie erklärten Sie Ihrem Sohn, dass seine Schwester gestorben ist?
Gian Simmen: Wir sagten ihm, dass Jonina nur in Mamis Bauch bei uns bleiben durfte, und jetzt wieder dahin zurück ging, wo sie herkam.
Petra Simmen: Ich arbeite als Krankenschwester im Kinderspital, auf der onkologischen Abteilung. Ich habe also sehr viel mit todkranken Kindern zu tun, und musste schon ab und zu einem Kind erklären, dass sein Geschwister sterben wird. Von daher hatte ich ein bisschen Erfahrung.
Haben Ihnen Ihre Erfahrungen im Beruf auch sonst geholfen in dieser Situation?
Petra Simmen: Das haben sie sicher. Ich musste mich oft mit der Vergänglichkeit auseinandersetzen. Und ich habe in all den Jahren meinen eigenen Glauben entwickelt. Ich bin sicher, dass es keine Zufälle gibt im Leben und dass es eine Gerechtigkeit gibt, aber nicht nach unserem menschlichen Verstand. Der ist viel zu klein und eingeschränkt. Jonina hatte ihre Aufgabe und die hat sie erfüllt.
Wie haben Sie als Eltern diesen Schicksalsschlag verarbeitet?
Gian Simmen: Wir haben viel miteinander geredet. Aber man muss auch akzeptieren, wenn der andere einmal nicht reden mag.
Petra Simmen: Unser Vorteil war, dass wir sowohl als Personen wie auch als Paar und Familie sehr stabil sind. Sonst hätte unsere Beziehung das vielleicht nicht ausgehalten.
Haben Sie unterschiedlich getrauert?
Gian Simmen: Ja, jeder von uns zwei hatte ein anderen Umgang mit der Trauer und ein anderes Ventil, um Dampf abzulassen. Ein Problem ist, dass die Trauer in Wellen kommt, man erlebt die ersten Monate nach dem Verlust extreme Hochs und Tiefs. Da geht es zwar beiden gleich, aber man weiss nie, wo der Partner gerade steht. Da wird dann die einfache Frage «Wie geht’s?» zum Problem. Wenn der andere gerade in einem Tief ist, kommt die Antwort: «Ja, wie wohl? Schlecht!» Klar, das müsste man wissen, aber es könnte ja sein, dass es etwas besser geht, man etwas Schönes erlebt hat. So entstanden in der ersten Zeit oft Missverständnisse, und es war nicht immer leicht, diese wieder auszubügeln. Aber wir haben es geschafft.
Stellten Sie sich die Frage nach dem Warum?
Petra Simmen: Immer wieder. Warum wir? Warum jetzt? Aber man muss aufhören damit. Es gibt einen Grund. Auch wenn wir ihn nicht verstehen. Und wir Menschen haben die Eigenheit, nur nach dem Warum zu fragen, wenn es uns schlecht geht...
Gian Simmen: Und schliesslich hatten wir einen Alltag, der weitergehen musste. Und ein Kind, Niculin, das Anrecht auf die Zuwendung seiner Eltern hat. Auch er hat uns mit seiner fröhlichen, energievollen und lustigen Art geholfen, die Trauer zu verarbeiten.
In welchen Situationen kommt die Trauer heute wieder hoch?
Petra Simmen: Zum Beispiel, als ich die Umstandskleider wieder hervorholte und die Bluse in den Händen hatte, die ich trug, als Jonina starb. Alle anderen Kleider konnte ich nochmal tragen, diese Bluse nicht. Und heute gibt es mir ab und zu noch einen Stich ins Herz, wenn ich einen etwa dreijährigen Buben mit einem gut einjährigen Schwesterchen sehe. So wären Niculin und Jonina jetzt.
Konnte Florin diese Lücke nicht schliessen?
Gian Simmen: Nein. Aber das ist auch nicht seine Aufgabe. Jonina wird immer eine Lücke hinterlassen bei uns, die niemand schliessen kann und soll. Auch nicht, wenn wir noch ein Mädchen bekommen hätten.
Können Sie Ihrer Geschichte auch etwas Gutes abgewinnen?
Petra Simmen: Auf jeden Fall. Wir haben als Personen, Paar und Familie sehr viel geleistet und auch profitiert. Wir sind toleranter geworden. Vieles, was vorher wichtig war, spielt einfach keine Rolle mehr. Es ist ja wirklich egal, ob Gian nun um 18 Uhr oder um 20 Uhr nach Hause kommt. Hauptsache, er kommt. Zudem wissen wir nun, dass wir auch in sehr schwierigen Situationen, die einem heftigen Familienerdbeben gleichen, bestehen können. Dies gibt viel Kraft und Sicherheit.
Was hat Florins Geburt in Ihrer Familie bewirkt?
Petra Simmen: Wir wünschten uns immer eine grosse Familie. Das wurde durch Joninas Tod erschüttert.
Gian Simmen: Florin gab uns diesen Traum zurück.
Möchten Sie noch mehr Kinder?
Petra Simmen: Ich habe in drei Jahren drei Kinder geboren, ich brauche eine Pause. Aber irgendwann hätten wir sehr gern ein viertes Kind.
Wie gross ist der Wunsch nach einem Mädchen?
Gian Simmen: Das wäre natürlich schön. Aber auch ein dritter Bub ist willkommen.