Ich wage zu behaupten, dass ich als Mutter immer relativ pragmatisch tickte, von Anfang an. Das Baby weint, dann hat es was. Meist Hunger, manchmal heiss oder kalt oder es tut ihm etwas weh. Man geht dann nach dem Ausschlussprinzip vor, versuchts mit füttern, abdecken, zudecken, rumtragen, beruhigen. Wenn das Baby nicht weint, ist alles okay. Dann muss ich nicht alle fünf Minuten schauen, ob es friert oder schwitzt oder vielleicht in den nächsten siebzehn Stunden irgendwann Hunger haben könnte.
Fixe Dogmen waren mir immer zuwider. Ich setzte weder auf zuckerfreie Ernährung noch auf feste Schlafenszeiten (selbstverständlich mussten die sich im Rahmen halten, aber ob das Kind nun eine Viertelstunde früher oder später schlief, fand ich nicht relevant). Und später auch nicht auf fixe Begrenzungen, was TV- oder Online-Zeiten anging. Mir war wichtiger, was sie schauen oder machen als wie lange sie es tun. Gesunden Menschenverstand fand ich immer besser als irgendwelche Regeln durchzustieren, einfach weil «man» das so machen sollte.
Einfach mal machen lassen
Und ich war eine der Mütter, die ihre Kinder gern mal machen liessen. Nicht wenn sie auf die Autobahn rennen oder mit einem Schmetterlingsmesser spielen wollten. Aber das Kind wollte Gras fressen oder sich im Sandkasten Sand reinschaufeln? Es wird schon merken, dass es Besseres gibt. Sandalen anziehen, wenn es regnet? Es wird sich umziehen, wenn es nasse Füsse hat. Die Rutschbahn hochklettern statt runterfahren? Die Kollision mit dem nächsten Kind, das rutscht, ist unvermeidbar und im besten Fall lehrreich. Eltern, die ihre Kinder ständig umschwärmten wie Motten das Licht, ihnen alles hinterhertrugen und sich gefühlt sekündlich nach ihrem Befinden erkundigten, haben mir immer ein Kopfschütteln entlockt. Bleibt doch mal locker, das Kind meldet sich schon, wenn was ist, egal, wie alt es ist.
«Vier Tage war das Kind nicht zu Hause, während des Praktikums wohnt es auswärts, verbringt nur drei Tage pro Woche daheim. Und ich? Mutiere in diesen drei Tagen zum Über-Helikopter.»
Und jetzt plötzlich, nach achtzehn Jahren Mutterdasein, erkenne ich mich selbst nicht wieder. «Hast du Hunger?», frage ich Kind 2, sobald es die Wohnung betreten hat. «Durst? Heiss? Kalt? Bist du müde? Gehts dir gut? Brauchst du was?» Vier Tage war das Kind nicht zu Hause, während des Praktikums wohnt es auswärts, verbringt nur drei Tage pro Woche daheim. Und ich? Mutiere in diesen drei Tagen zum Über-Helikopter, würde ihm am liebsten jeden Wunsch von den Augen ablesen. Schliesslich ist es so oft in der Fremde, mein Baby, unter fremden Leuten, und ich weiss nicht, wie es dort behandelt wird. Bekommt es gut zu essen? Schläft es genug? Zieht es sich richtig an?
Und das Kind? Räumt seine Tasche aus, allein. Schmeisst die Wäsche neben den Wäschekorb (wenigstens das hat sich nicht geändert), freiwillig. Geht in die Küche und macht sich etwas zu essen, selbstständig. Geht in sein Zimmer. Und schreit. «Mammmaaaa! Eine Spinne!» Ich komme, ich eile, ich fliege. Und sobald dieses Viech draussen ist, kehre ich wieder zu meinem früheren Pragmatismus zurück. Ich versprechs.