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Der ganz normale Wahnsinn

Gleichberechtigung: Wir sind weit gekommen. Aber nicht weit genug.

Vergangene Woche war Frauenstreik. Der warf keine so hohen Wellen mehr wie auch schon. Nicht nur, weil Krieg und Krisen derzeit die Schlagzeilen dominieren. Sondern auch, weil sich eine gewisse Müdigkeit breitmacht. Wenn man immer wieder das gleiche sagt, ohne dass sich wahnsinnig viel ändert, hat man irgendwann keinen Bock mehr. Trotzdem wird sich unsere Familienbloggerin auch in Zukunft immer wieder für den Feminismus stark machen.

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Sandra Casalini, bei sich zu Hause in Thalwil, am 04.12.2018, Foto Lucian Hunziker

Der Kampf für Gleichberechtigung muss weitergehen, sagt Familienbloggerin Sandra Casalini. Auch wenn er zuweilen ermüdet.

Lucia Hunziker

Und dann gibt es da noch die 55 Prozent der Männer und die immerhin 25 Prozent der Frauen in der Schweiz, die davon überzeugt sind, dass Gleichberechtigung erreicht ist. Die müssen in einem anderen Land leben als ich. In meinem Land liegt der Frauenanteil in den Geschäftsleitungen bei gerade mal 13 Prozent. In meinem Land sind die Opfer von häuslicher Gewalt zu 70 Prozent Frauen, umgekehrt die Täter zum gut gleichen Prozentsatz Männer. In meinem Land stirbt im Schnitt alle zwei Wochen eine Frau durch die Hand eines Mannes – weil sie eine Frau ist.

Ja, es hat sich einiges geändert in den letzten 20 Jahren. Heute würde man mir nicht mehr so selbstverständlich sagen, dass sich Mutterschaft und Führungsposition ausschliessen, auch wenn mein Arbeitspensum 80 Prozent beträgt. Auch die Aussage, eine Lohnerhöhung liege nicht drin, ich könne mit zwei Kindern froh sein, einen Job zu haben, würde man heute so nicht mehr tätigen. Und die Kindergärtnerin, die ohne Scheu äusserte, mein Kind wäre «vielleicht etwas normaler, wenn Sie nicht so viel arbeiten würden», würde sich diese Bemerkung heute verkneifen.

«Jeder Mann erzählte mir, was er alles kann. Fast jede Frau erzählte mir, was sie alles nicht kann.»

Aber: Freundinnen und Kolleginnen mit kleineren Kindern und 80-Prozent-Arbeitspensum erzählen mir immer noch von hochgezogenen Augenbrauen und spitzen Bemerkungen. Ich selbst hatte vor einiger Zeit eine Stelle in meinem Team zu besetzen. Der Rekrutierungsprozess war erstaunlich für mich – und ernüchternd. Zum einen hatten die männlichen Bewerber durchs Band höhere Lohnvorstellungen als die weiblichen, was darauf hinweist, dass sie jetzt schon mehr verdienen. Da soll mir nochmal jemand erzählen, es gäbe keine Lohnungleichheit. Unter den gut dreissig Bewerbungen waren zwei von Frauen mit jungen Kindern. Beide haben ihre Bewerbung nach dem ersten Gespräch zurückgezogen, weil sie dachten, der Job lasse sich nicht mit ihren Mutterpflichten vereinen. Wir sprechen hier nicht von dauernder Erreichbarkeit und ständigen Sitzungen nach 18 Uhr, sondern lediglich von vereinzelten Wochenend- und Abendeinsätzen. Jeder Mann, der mir beim Bewerbungsgespräch gegenüber sass, erzählte mir, was er alles kann. Fast jede Frau erzählte mir, was sie alles nicht kann, aber bereits ist, zu lernen.

Wir sind schon weit gekommen, aber echte Gleichberechtigung ist noch nicht in unseren Köpfen angekommen, weder in denen von Männern, noch in denen der Frauen. Auch wenns mühsam ist, immer wieder das gleiche zu erzählen: Ich tus trotzdem. In der Hoffnung, dass meine Enkelkinder dereinst erstaunt fragen, was ein Femizid ist, und warum wir eigentlich so ein Gschiss um Frauen in Führungspositionen machten.

Von SC am 22. Juni 2024 - 12:00 Uhr