Lieber Huldrych Zwingli
2019 ist Zwingli-Jahr, und Sie können froh sein, dass Sie nicht dabei sind: In Ihrem Namen wird allerhand Allotria getrieben. Eine Pfarrerin fordert: «Wir sollten den Katholiken das Fraumünster schenken.» Ausgerechnet das Fraumünster! Wo doch Frauen immer noch nichts zu melden haben bei den Katholiken. Das Grossmünster erlaubt dem Sprayer Harald Naegeli, die Wände mit seinen Strichmännlein zu bemalen. Aus einem Schmierer ist plötzlich ein Künstler geworden.
Eigentlich wissen die Zürcher ja, was Sie von Bildern in der Kirche hielten: raus damit! «Sola scriptura», nur die Bibel soll Basis des Glaubens sein, keine Marienbilder und anderer religiöser Bilderkram. Jeder soll die Bibel selbst lesen. Keine Bevormundung durch Priester. Aber eben, im Zeitalter des Bildes wirken Sie geradezu revolutionär mit Ihrem Aufruf zum Lesen.
Der von Ihnen gepredigte Arbeitsethos hat dazu geführt, dass sich Zürich heute als eine der reichsten Städte präsentiert
Der von Ihnen gepredigte Arbeitsethos hat dazu geführt, dass sich Zürich heute als eine der reichsten Städte präsentiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Schweiz grosse wirtschaftliche Leistungen eingewanderten Reformierten verdankt, die vor der Verfolgung durch die katholische Kirche fliehen mussten. Im Welschland sind es die Uhren- und Schokoladeindustrie, in der Deutschschweiz die Textilindustrie. In Zürich haben die italienischen Reformierten Orelli, Muralt und Pestalozzi wohlstandsfördernd gewirkt.
Was mir immer gefallen hat: Sie waren nicht so radikal wie Calvin, der in Genf so strenge Verhaltensregeln (Tanzen verboten!) aufgestellt hat, dass die Bevölkerung ihn vorübergehend rausgeschmissen hat. Dann also: schönes Zwingli-Jahr!
Mit freundlichen Grüssen
Peter Rothenbühler