Seit bald einem Jahr plagen wir uns mit der Corona-Pandemie. Vor allem die zweite Welle hat die Schweiz hart erwischt. Was hat sich für Seniorinnen und Senioren im Vergleich zum Frühling verändert?
Als die Ansteckungszahlen im Sommer eine kleine Verschnaufpause zuliessen, konnten die Erfahrungen aus der ersten Welle evaluiert und in Schutzkonzepten festgehalten werden. Die Hygieneregeln, die Abstandsempfehlungen und das Tragen von Masken sind ebenfalls mittlerweile allen bekannt. Das Wichtigste ist jetzt, nicht nachzulassen und im Alltag das persönliche Risiko stets von Neuem abzuwägen. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass die Solidarität in der Bevölkerung grundsätzlich gross ist. Man möchte seinen Mitmenschen helfen, die sich besonders vor einer Ansteckung schützen müssen. Das zeigt die grosse Bereitschaft, sich beispielsweise bei AMIGOS als freiwillige Bringerinnen und Bringer zu engagieren. Nun gilt es aber zu zeigen, dass diese Solidarität andauert. Das wird in den kommenden Wochen oder gar Monaten äusserst wichtig sein.
Was macht das Leben für Betagte besonders schwer?
Einsamkeit. Es ist herausfordernd, sich zu schützen, gleichwohl aber am gesellschaftlichen und geselligen Leben teilzunehmen. Mit einem Rückzug zum eigenen Schutz steigt die Gefahr der Vereinsamung. Das ist für alle, für Menschen auf dem Land wie auch in der Stadt, für Jung und Alt, eine grosse Herausforderung. Pro Senectute Schweiz hat hierfür unter anderem das Konzept der Telefonketten reaktiviert und appelliert in der Öffentlichkeitsarbeit daran, regelmässig telefonisch oder digital Kontakt zu den Seniorinnen und Senioren aufzunehmen – besonders jetzt, in der Adventszeit. Einige Pro Senectute Organisationen rufen zudem beispielsweise alle Menschen im Alter über 80 Jahren in verschiedenen Gemeinden an und fragen, wie es ihnen geht und wie man helfen kann. Solche Gespräche sind besonders wichtig.
Für viele Ältere kann der Virus lebensbedrohlich sein. Wie gehen Menschen im letzten Lebensabschnitt damit um?
Wir stellen fest, dass die Seniorinnen und Senioren die Hygiene- und Verhaltensregeln kennen. Sie begegnen der Pandemie mit Fassung, aber auch mit viel Respekt. Es wird grossmehrheitlich verstanden, dass man sich selbst schützen muss und gleichwohl eine Verantwortung gegenüber der ganzen Gesellschaft trägt. Schwierig wird es dann, wenn harsche Einschränkungen wie ein Besuchsverbot im Raum stehen. Wir finden, dass mit strikt eingehaltenen Schutzkonzepten der Spagat zwischen dem Schutz der Menschen und dem Bedürfnis nach sozialen Kontakten gelingen kann.
Kommen mit der aktuellen Lage verstärkt Fragen zum Lebensende auf?
Der Umgang mit der eigenen Endlichkeit ist schwierig und zu oft noch ein Tabu. Die Auseinandersetzung mit den eigenen letzten Wünschen ist wichtig – in der Pandemie wie auch in «normalen Zeiten». Wir erhielten vermehrt Anfragen, ob Behandlungswünsche im Falle einer schweren Corona-Infektion, insbesondere im Falle einer künstlichen Beatmung, speziell geregelt werden können. Wir entwickelten dazu mit Partnerorganisationen ein Informationsblatt, das Antworten und Denkanstösse rund um diese schwierige Thematik der persönlichen Vorsorge liefert. Aus unserer Sicht darf man sich aber nicht durch die vielen Aufrufe und erhöhte Sensibilisierung unter Druck setzen lassen. Solch wichtige Entscheidungen brauchen Zeit und Gespräche mit seinen Nächsten. Die aktuelle Lage ist bestimmt ein guter Anlass, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
«Mit strikt eingehaltenen Schutzkonzepten kann der Spagat zwischen dem Schutz der Menschen und dem Bedürfnis nach sozialen Kontakten gelingen»
Alain Huber
Alain Huber ist Direktor Pro Senectute Schweiz. Die 1917 gegründete Stiftung setzt sich für das Wohl, die Würde und die Rechte älterer Menschen ein.
Wovor haben Betagte am meisten Angst?
Verschiedene Fragen beschäftigen die ältere Bevölkerung: Die Ungewissheit, wie lange die Pandemie noch andauert oder ob soziale Kontakte bald wieder ohne Einschränkungen möglich sein werden. Die Sorge darum, dass Seniorinnen und Senioren aufgrund ihres Alters Nachteile erleiden – ob bei der Impfung oder eines möglichen Ausgangsverbots für Menschen, die sich besonders vor einer Ansteckung schützen müssen. Und schliesslich beschäftigt die Diskussion um eine allfällige Triage von Corona-Patientinnen und -Patienten, sollte es nicht mehr genügend Intensivbetten geben. Bei all diesen Punkten setzt sich Pro Senectute als grösste Altersorganisation dafür ein, dass ältere Menschen keine Nachteile erfahren.
Je länger die Pandemie dauert, desto schlimmer wird es? Oder gewöhnt man sich auch irgendwie daran?
Man hat sich an das Tragen einer Schutzmaske, an die Hygieneregeln und an die Rücksichtnahme gewohnt. Doch nach neun Monaten Pandemie schleicht sich – bei uns allen – eine gewisse Müdigkeit ein. Leider haben wir diese schwierige Zeit aber noch nicht durchgestanden. Das heisst: Durchhalten. Hinzu kommt, dass die Winterzeit auch ohne eine Pandemie oft Mühe bereitet. Viele Menschen fühlen sich alleine und einsam. Umso wichtiger ist es, als Gesellschaft ein Zeichen zu setzen und all jene Menschen, die sich zurückgezogen haben, nicht zu vergessen.
Was raten Sie Seniorinnen ganz allgemein?
Nicht zu vergessen, dass viele Menschen jeden Alters vorbildlich mit der schwierigen Situation umgehen und so dazu beitragen, dass wir hoffentlich bald wieder einen «normalen» Alltag geniessen können. Viele möchten auch helfen. Wir erfuhren eine riesige Solidarität aus allen Generationen. Die Menschen sind dazu bereit, sich zu engagieren. Aber es ist genauso wichtig, sich bemerkbar zu machen, wenn man ein wenig Unterstützung oder einfach ein kurzes Gespräch wünscht, das Abwechslung in den Alltag bringt. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft aufeinander zugehen und uns mitteilen müssen. Vielleicht rufen Sie einfach einmal Ihre Nachbarin an und fragen, wie es ihr geht? So entsteht ein Austausch, der auch vor Corona in der oft grossen Anonymität des Alltags unterging, aber gut tut.
Wie sollen Angehörige mit der Situation umgehen?
Mit grosser Sorgfalt. Oft stecken sich Menschen im eigenen Familienkreis an. Das zeigt, wie zentral es ist, auch im eigenen Umfeld die Hygiene- und Verhaltensregeln einzuhalten. Und trauen Sie sich, auch das Thema digitale Kommunikation anzugehen. Wir wissen von vielen älteren, ja hochaltrigen Menschen, die einen ersten Schritt mit zum Beispiel der Videotelefonie gemacht haben. So konnten sie den Kontakt mit ihren Nächsten aufrechterhalten. Familien richteten beispielsweise tägliche Videotelefonie-Zeiten ein, damit die Grosseltern die Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen können. Das fordert beide Generationen und hilft, trotz physischer Distanz nah beisammen zu bleiben.
Weihnachten steht vor der Tür, ein Fest mit vielen Traditionen und Ritualen. Doch dieses Jahr dürfte vieles anders werden. Haben Sie einen Tipp, damit wir die Festtage generationenübergreifend doch noch geniessen können?
Das ist eine Diskussion, die in der Familie unbedingt geführt werden muss. Selbstverantwortung ist gefragt – und zwar von allen. Die Regeln sind bekannt und gelten auch in der Familie: Masken tragen, Abstand wahren, Innenräume gut lüften, Treffen mit vielen Verwandten, Bekannten und Freunden vermeiden. Dazu gelten in einzelnen Kantonen bereits strenge Regeln. Deshalb ist es dieses Jahr vielleicht ratsam, spontaner zu sein und so mit Blick auf die gerade aktuelle Situation zu planen. Alles auf Vorrat abzusagen, macht nicht immer Sinn, aber man sollte sich sicher auf weniger, aber persönlichere Begegnungen einstellen.
Über die Aktion «DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN.»
Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Coronakrise. «DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN» heisst der Aktionstag, der vom BAG initiiert wurde und am 10. Dezember 2020 stattfindet. Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit Ringier, der SRG (alle vier Sprachregionen) und vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas «psychische Gesundheit». Menschen in schwierigen Situationen erfahren so Solidarität und werden über konkrete Hilfsangebote informiert. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.
Weitere Informationen: bag-coronavirus.ch/hilfe