Der Zürichsee ist sechs Grad kalt und das Denken auf Eis gelegt. Auf das «Los!» von Jan Pekarek waten wir wie ferngesteuert ins Wasser. Als es uns bis zu den Hüften reicht, tauchen alle Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer bis zu den Schultern ein. In meiner Brust macht sich Panik breit. Der Körper scheint die ganze Aktion nur mässig lustig zu finden und reagiert mit starkem, schwer kontrollierbarem Zittern. «Einatmen, ausatmen – entspannt euch!», ruft derweil Pekarek vom Ufer her. Entspannung klingt unter den gegebenen Umständen zynisch. Die Konzentration auf die Atmung funktioniert aber. Das Zittern verschwindet, und nach einer Minute im kalten Wasser verändert sich das Körpergefühl. Angenehm ist die Kälte immer noch nicht, aber aushaltbar. Eine weitere Minute – geschafft!
Den Körper absichtlich der Kälte auszusetzen ist keine neue Erfindung: Profisportler gehen zur Regeneration in die Kältekammer. Nach der Sauna gehört das eisige Tauchbecken dazu. Durch die Pandemie hat das Eisbaden an Beliebtheit gewonnen. «In einer Zeit der Einschränkungen sind die Menschen neugierig auf neue Erfahrungen», sagt Jan Pekarek. Er selbst besuchte Kurse beim holländischen Extremsportler Wim Hof, der eine eigene Methode zum Eisbaden entwickelt hat, später liess Pekarek sich von ihm zum Instruktor ausbilden.
Nie alleine – und übertriebener Ehrgeiz ist gefährlich
Unser Eisbaden hat auf der Yogamatte begonnen, im Studio Airyoga in Zürich. Mit Meditation, Atemübungen – ein wichtiger Teil der Wim-Hof-Methode – und etwas Theorie. Das Baden im kalten Wasser aktiviere unser Reptiliengehirn, die Instinkte und Reflexe, so Pekarek. «Wir sind im Alltag stark im Denken verhaftet, werden von Informationen überflutet, sodass viele Menschen an kreisenden Gedanken und Schlafstörungen leiden und eine latente Müdigkeit spüren.» Die extreme Kälte schenke Klarheit und bringe einen zurück in den Körper. Wenn die Stresssituation überwunden ist, werden Glückshormone frei, ähnlich wie beim Bungee-Springen. Pekarek selbst suchte früher im Marathonlauf und mit Extremsportarten nach einem Kick: «Wie viel sicherer ist es doch, sich mit Eisbaden aus der Komfortzone zu bewegen.»
Allerdings erfordert auch das kalte Wasser Respekt. «Es kommen mächtige Kräfte auf uns zu», betont Pekarek. Als Faustregel gilt: maximal so viele Minuten drinbleiben wie die Wassertemperatur beträgt. Übertriebener Ehrgeiz ist gefährlich, ebenso das Eisbaden in Flüssen.
Nach dem Bad im See fühle ich mich überwältigt und will schnell an die Wärme. Auch am Abend zu Hause fröstelt es mich immer wieder, ich habe einen Mordshunger und bin erledigt. Eine Woche später wage ich einen zweiten Versuch, bleibe eine Minute im Wasser. Vieles geht schon leichter. An die mächtigen Kräfte, von denen Pekarek gesprochen hat, muss man sich erst mal gewöhnen!
Das sagt die Expertin
Frau Munzinger, wie wirkt Eisbaden bei uns?
Auf Kältestress reagiert der Körper mit dem Ausstoss von Adrenalin, Endorphinen und entzündungshemmenden Faktoren. Die Blutzirkulation wird bis in die kleinsten Gefässe angeregt. Die Kälte hat eine gute Wirkung aufs Bindegewebe und das Herz-Kreislauf-System, es aktiviert Wärmeenergie aus den braunen Fettzellen.
Inwiefern taugt Eisbaden als Therapie?
Bei regelmässigem Kältetraining wird das Immunsystem gestärkt, man leidet beispielsweise weniger an Erkältungen. Der Nutzen liegt für mich vor allem im mentalen Bereich. Es geht darum, den Stress des Kälteschocks auszuhalten, ruhig und fokussiert zu bleiben. Anschliessend wird man mit einem High belohnt.
Wem empfehlen Sie Eisbaden, wem nicht?
Nicht geeignet ist es für Menschen mit Bluthochdruck, bei Herz- und Gefässerkrankungen, Diabetes und während der Schwangerschaft. Für alle anderen: hinein ins Wasser – aber nie alleine! Wichtig ist es, langsam anzufangen, zur Vorbereitung hilft kalt duschen.