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Phänomen Needle Spiking

«Das Motiv ist nicht immer das Gleiche»

Auch am Zürich Openair gab es wieder Needle-Spiking-Fälle, bei denen Unbekannte ihren Opfern unbemerkt Nadelstiche zufügten. Die Attacken häufen sich weltweit. Ob wir nun besser zu Hause bleiben sollten und wie wir uns davor schützen, erklärt uns Jérôme Endrass, forensischer Psychologe beim Kanton Zürich.

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Pexels/Wendy Wei

Tatort Konzert: In dichtem Gedränge fügen Unbekannte ihren Opfern heimlich Nadelstiche zu.

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Needle Spiking hat nun auch die Schweiz erreicht, ist die Angst berechtigt?

Prof. Dr. Jérôme Endrass: Es stimmt, dass jetzt erstmals Fälle in der Schweiz dokumentiert wurden, nachdem im Ausland schon länger davon berichtet wurde. Aber wir dürfen nicht vergessen: Bei Needle Spiking handelt es sich um ein Phänomen, das höchst selten vorkommt. Trotz all der unzähligen Partys und Konzerten, die es weltweit gibt, sind nur vereinzelte Fälle bekannt. Nur ein Teil der berichteten Fälle ist auch medizinisch und polizeilich dokumentiert. Natürlich ist jeder Fall einer zu viel. Aber wir dürfen den Blick fürs Ganze nicht verlieren. Es ist ein seltenes Phänomen, das zurzeit starke mediale Aufmerksamkeit erhält. Darum bekommt man schnell den Eindruck, einen Trend zu erkennen. Doch Einzelfälle machen noch lange keinen Trend aus. Im Gegenteil: Laut Statistik ist die Wahrscheinlichkeit, einer Nadelattacke zum Opfer zu fallen, sehr gering. Darum gibt es keinen Grund, voreilig in Panik zu verfallen. 

Welche Rolle spielen bei diesem Phänomen die Medien?

Egal, ob es um Terrorismus, einen Amoklauf oder um Mord geht – die Frage lautet immer: Wie können Journalist*innen über ein Ereignis berichten, damit die Öffentlichkeit informiert ist und auch einen Mehrwert davon hat? Nicht der Sensationswert, sondern die Aufklärung sollte dabei im Zentrum stehen, damit die Menschen nicht unnötig verängstigt werden. Medien müssen sich auch darüber bewusst sein, dass eine Berichterstattung einen Nachahmer*innen-Effekt nach sich ziehen kann. Darum ist es wichtig, dass Medien benennen, was es überhaupt ist: Needle Spiking ist hochkriminell und alles andere als ein lustiger Prank. Jede Nadelattacke – egal, wie schwerwiegend die medizinischen Konsequenzen sind – hat strafrechtliche Konsequenzen.

Was könnte das Motiv von Täter*innen sein?

Nadelattacken sind ein neues kriminelles Phänomen. Und da gilt generell: Es braucht eine Weile, bis sich Muster und Dynamiken erkennen lassen. Gleichzeitig wissen wir aus der Forensik, dass es – auch bei gleichen Deliktkategorien – nie nur eine Motivlage gibt. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies bei Nadelattacken anders ist. Sprich: Bei einer Person könnten sexuelle Fantasien ausschlaggebend gewesen sein. Bei einer anderen stand vielleicht das Ziel im Vordergrund, Angst und Schrecken zu verbreiten und sich mächtig zu fühlen. Es mag auch Personen geben, die das Ganze als Spass sehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Motive sehr unterschiedlich sind und man nicht von ein und demselben Motiv sprechen kann.

Eine Nadelattacke ist – wenn noch eine Substanz injiziert wird – sehr zeitintensiv. Was geht in den Täter*innen vor? 

Das hängt ganz vom Motiv ab. Die Zielführung ist nicht immer dieselbe. In der Forensik sehen wir immer wieder viele Täter*innen, die unlogisch agieren und bei einer kriminellen Tat alles andere als rational vorgehen. Darum gibt es viele Delikte, bei denen man sich an den Kopf fasst und fragt, was sich die oder der Verbrecher*in wohl dabei gedacht hat. Weil das, was sie oder er vorhatte, nie und nimmer hätte funktionieren können. Das heisst aber noch lange nicht, dass die Täter*innen es nicht trotzdem ausprobieren. Straftäter*innen sind häufig nicht von der Logik getrieben. Ihr Vorgehen wirkt wenig durchdacht.

Wie ist es möglich, dass die Täter*innen unbemerkt davonkommen?

An Events wie dem Zürich Openair oder der Street Parade ist es extrem voll und man hat dauernd Körperteile von anderen Menschen am eigenen Körper. Wahrscheinlich bleiben sie deshalb unbemerkt. Der Hauptgrund dafür ist wohl aber, dass bisher schlichtweg die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen gefehlt hat. Die Vorteile von Berichterstattungen liegen neben der Aufklärung auch darin, die Öffentlichkeit aufmerksamer und wachsamer zu machen.

Wie können wir uns vor vermeintlichen Attacken schützen?

Es ist so einfach und effektiv: Es geht nicht darum, sich eine teure Sicherheitsanlage zu beschaffen, die versteckte Nadeln bei Gästinnen und Gästen entdeckt, sondern darum, aufmerksam zu sein, und zwar konsequent. Wenn etwas passiert, müssen Opfer und oder Beobachter*innen sofort richtig handeln: Die Attackierten sollten in jedem Fall so rasch wie möglich ein Spital aufsuchen und sich untersuchen lassen. Genauso wichtig ist es, die Polizei zu verständigen.

Haben Sie sonst noch einen Tipp zum Schluss?

Wir müssen dieses Phänomen gut einordnen, um nicht den Spass am Ausgehen zu verlieren. Wir haben schon genug Sorgen und müssen uns nicht unnötig in Angst versetzen lassen. Sollte das Unwahrscheinliche trotzdem eintreffen, ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Glücklicherweise sind wir noch weit davon entfernt, dass Needle Spiking für die breite Masse gefährlich wird.
 

hin.ch

Prof. Dr. Jérôme Endrass, stellvertretender Amtsleiter Justizvollzug und Wiedereingliederung beim Kanton Zürich.

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Paul Seewer
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Von Vanessa Kim am 29. August 2022 - 16:00 Uhr