Der Coronavirus zwingt uns dazu, zu Hause zu bleiben. Wann immer es geht, unserem Job vom Home Office aus nachzugehen. Den Kontakt mit Freunden und Familie nur noch ohne Face-to-Face-Kontakt zu pflegen. All diese Massnahmen sind wichtig, um Risikogruppen in der Schweiz zu schützen und die Zahl der Infizierten so klein wie möglich zu halten, um die Krankenhäuser nicht zu überlasten. Für die meisten von uns ist das ein relativ kleiner Preis, mit dem wir vielen helfen können. Leider geht das nicht allen so. Für einige bedeutet die Selbstisolation grossen psychischen Druck – womöglich mit schlimmen Folgen.
Mehr Fälle von häuslicher Gewalt sind zu erwarten
Denn die häusliche Gewalt in der Schweiz steigt an. 2018 verzeichnete das Land 18.522 angezeigte Fälle – zwei Fälle jede Stunde. 2014 waren es noch 15.650. Die Dunkelziffer in beiden Jahren dürfte weit höher liegen, denn viele Opfer tun sich schwer damit, zur Polizei zu gehen. Jetzt, wo der neue Coronavirus viele Paare dazu zwingt, den ganzen Tag gemeinsam in der Wohnung zu verbringen, steigt das Konfliktpotenzial noch weiter an. Gegenüber dem SRF erklärte Silvia Vetsch, Leiterin des Frauenhauses St. Gallen: «Wenn [Paare] so eng aufeinander sind, ist das Konfliktpotenzial um einiges höher, als es ohnehin bereits ist. Wir gehen davon aus, dass es in den nächsten Wochen vermehrt zu häuslicher Gewalt kommen wird, weil die Menschen sich nicht auswärts betätigen können – beispielsweise beim Sport oder im Kino.» Ein Risiko besteht dabei vor allem, wenn es bereits vorher zu häuslicher Gewalt gekommen ist oder ein hohes Aggressionspotenzial in der Beziehung vorherrscht. Statistiken haben gezeigt, dass auch Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen oder Stress zu Risikofaktoren werden können. Missbrauch hat immer etwas mit Macht und Kontrolle zu tun. Gerade jetzt kommt schnell das Gefühl auf, beides im Bezug auf sein eigenes Leben verloren zu haben. Der Ausgleich anderswo kann übel enden.
Dass die steigenden Zahlen leider mehr als nur Annahmen sind, zeigt China. Wie BBC berichtet, sind die Fälle von häuslicher Gewalt im Land während der Corona-Krise angestiegen. Gerade zu Beginn musste wegen der Ausgangssperre oft tagelang dafür gekämpft werden, den Opfern helfen zu können, indem sie etwa ein naher Verwandter von zu Hause abholt. Der Hashtag #AntiDomesticViolenceDuringEpidemic wurde auf dem chinesischen Social-Media-Netzwerk Sina Weibo über 3000 mal diskutiert. Auch die Zahlen aus der Weltfinanzkrise 2009 machen deutlich: Schwere Zeiten können schlimme Folgen mit sich bringen. Und: Während des Banken-Kollaps in Griechenland stieg die Gewalt in Familien um knapp 54 Prozent an, wie das Fachmagazin «Psychology Today» berichtet.
Wenige Betten, viele Probleme
Die Frauenhäuser in der Schweiz haben auch jetzt geöffnet. Das grosse Problem an der Sache: Schon heute sind die Frauenhäuser in der Schweiz immer wieder voll belegt, auch in den jeweiligen Nachbarkantonen gibt es zu wenig Betten. Was dann noch bleibt, sind Hotels – eine unsichere Möglichkeit, weil die Adresse bekannt werden könnte. Jedes vierte Gewaltopfer muss abgewiesen werden. Trotzdem versuchen die Mitarbeiter natürlich alles, um für jeden eine Lösung zu finden. Gefordert ist aber auch die Politik.
Hinzu kommt, dass viele Frauen sich selbst für die Gewalt verantwortlich machen, die sie erleben, oder gar nicht realisieren, dass in ihrer Beziehung etwas falsch läuft. Denn Missbrauch findet nicht zwingend auf physischer Basis statt. Auch psychischer, sexueller, emotionaler oder finanzieller ist möglich und ebenso eine Straftat wie körperliche Verletzungen.
Holt euch Hilfe
Betroffene können sich bei den Opferhilfestellen melden, die es in jedem Kanton gibt – auch Kinder oder Männer. In akuten Fällen führt der Weg über die Polizei. Redet mit euren Angehörigen und holt euch Hilfe. Für alle anderen gilt: Wenn wir Gewalt miterleben, sie durch Wände oder Fenster hören oder auf der Strasse sehen, ist es wichtig, aktiv zu werden. Ermutigt die Betroffenen, Hilfe zu holen und sich beraten zu lassen.