Alles, was wirklich wichtig ist, beginnt bekanntlich mit Brad Pitt. 1999 zum Beispiel sprach der in «Fight Club», der Verfilmung des Kultromans von Chuck Palahniuk, die weisen Worte, wir bestünden allesamt aus derselben organischen Materie und würden auf demselben Komposthaufen dahin rotten. Keiner ist schöner und besser als der andere, niemand ist einzigartig – so, wie es dagegen eine bezaubernd-schimmernde Schneeflocke ist.
Von eben dieser reizenden Metapher her rührt der Grundgedanke der verhätschelten Generation Snowflake. Der überzuckerte junge Erwachsene der 2010er spürt den Drang der sich in viele Kristalle aufsplitternden Selbstverwirklichung und will sich weder einschränken noch entscheiden. Er wähnt sich als elitär, besonders und deshalb in seiner Ausserordentlichkeit oft missverstanden. Das verletzt ihn. Ihm wirds schnell zu viel. Resilienz ist ihm lediglich als Fremdwort bekannt.
Nun leben wir seit neun Monaten mit einer Pandemie, die jeden treffen kann. Und jeden trifft, der sich nicht einschränken kann und will. Wir sind nicht mehr in der Lage zu arbeiten, wo und wie wir wollen, können nicht mehr treffen, auf wen wir Lust haben. Man ahnt es, das zarte Schneeflöckchen befindet sich in einer Ausnahmesituation. Dabei fragt man sich doch im Umkehrschluss: Warum sind gerade die Schneeflocken so wenig krisenresistent – sollten die nicht flexibler sein, weil digitaler Kontakt Normalzustand ist? Der Zürcher Psychologe Ben Kneubühler weiss: «Es ist nicht dasselbe, rein digitalen Kontakten gewohnt zu sein, und dazu verdonnert zu sein, nicht rauszudürfen. Jugendliche und junge Erwachsene der Generation Snowflake befinden sich in einer Lebensphase, in der der direkte Kontakt sehr wichtig ist. Angenommen, sie wohnen noch zu Hause – dann ist dieser Freiraum zentral für die Entwicklung und Identitätsbildung.» So rutschen die jugendlichen Sensibelchen langsam ab wie eine zarte Eisblume am Fenster, wenn die Sonne darauf scheint.
Macht uns die Krise alle zu fragilen Schneeflocken?
Während die zart-gefrorenen Wassergebilde den Höhepunkt der schreienden Ungerechtigkeit sowie Reizbarkeit erreicht zu haben scheinen, ist auch für alle anderen die Situation neu. Schwierig. Belastend. Gerade geht es allen schlecht. Oder zumindest: nicht optimal. Keiner kann mehr leben wie er es gewohnt war. Erstarrt die gesamte Menschheit nun langsam aber sicher zu zerbrechlichen Snowflakes?
«Diese Beobachtung mache ich durchaus. Die Toleranzschwelle sinkt bei vielen, der Optimismus geht verloren und Dinge werden eher persönlich genommen. Das hat damit zu tun, dass die Krise uns in den verschiedensten Lebensbereichen trifft. Das wiederum wirkt sich frustrierend auf unser Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle aus und verunsichert uns zunehmend», so Kneubühler. Wir haben also allesamt Grund zu jammern. Immerhin. Keiner muss sich schämen.
Ist Jammern schlecht für die Gesundheit?
Nicht nur Irren, sondern auch Motzen ist menschlich. «Die meisten von uns haben es vermutlich schon erlebt, dass während des Jammerns irgendwann eine Erleichterung eintritt und wir plötzlich auch wieder andere, positive Aspekte des Lebens zu sehen beginnen. Manchmal tut es gut, sich zu ein bisschen zu beschweren und dafür Trost zu bekommen», erklärt uns der Zürcher Psychologe. Allerdings verlangen wir unserem Gehirn wahnsinnig viel ab, wenn wir es darauf konditionieren, immer wieder ablehnend auf gewisse Situationen zu reagieren. Es sei wie immer eine Frage des Masses: «Ungesund wird es, wenn wir richtiggehend in einem Strudel des Jammerns versinken und dadurch auch den Zugang zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen verlieren – wenn wir also einfach aufzählen, was alles nicht gut läuft, ohne darüber zu reden, wie ärgerlich, traurig, frustrierend oder belastend das gerade für uns ist und was uns helfen würde.»
Auch der Körper tut sich schwer: Beim Nörgeln können sich die Muskeln schmerzhaft verspannen, Kopfschmerzen flammen auf und Schlafstörungen erwachen. Wenn der Körper nämlich in einer Tour mit dem Stresshormon Cortisol beschäftigt ist, erhöht das das Risiko, dass der Jammerlappen irgendwann an Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Diabetes und Depressionen zu leiden hat.
«Jetzt hör mal auf zu jammern!» – macht Motzen einsam?
Wir sprachen vom richtigen Mass. Wer sich immer nur beschwert, nervt natürlich irgendwann. Auch wenn alles schwer ist: Wer nicht in der Lage ist, auch mal zuzuhören und sein Gegenüber ebenfalls zu unterstützen, wird unter Umständen gemieden. Aber Ben Kneubühler kennt auch andere Gründe: «Viele Menschen bevorzugen ein Gegenüber, das positive Stimmung verbreitet. Es kann auch das Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit entstehen, wenn jemand ständig motzt. Wir können uns sogar minderwertig oder schuldig fühlen, wenn wir dem Jammernden nicht weiterhelfen können.» Also: Hinsetzen, Ohren auf und einfach da sein. Rat geben, wenn danach gefragt wird. Versuchen, nachzuvollziehen. Dem anderen das Gefühl geben, dass man ihn versteht. In den Arm nehmen.
Und manchmal hat das ewige Nörgeln auch was Gutes: «Gemeinsames Jammern kann auch etwas sehr Verbindendes haben und manche Freundschaften scheinen fast darauf aufzubauen», so Kneubühler. Also ... die Flasche Rotwein entkorken und erst mal so richtig drauflos haten? Nun gut, konstruktive Problemlösung sieht anders aus. Spass machts aber vielleicht. Und was macht heutzutage noch Spass? Schneeflocken fangen vielleicht?