Susanne Walitzas Büro befindet sich in einer altehrwürdigen Villa im Zürcher Seefeldquartier. Auf dem knarrigen Fischgratparkett steht ein buntes Schaukelpferd mit Baujahr 1912, das die Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Zürich von ihrem Grossvater geerbt hat. «Mein Sohn schaukelte früher auch darauf.»
Im Garten der Klinik gackern Hühner, welche von den im Nachbarhaus behandelten Kindern und Jugendlichen gefüttert werden. «Die Beziehung zu Tieren kann Wunder bewirken», sagt die 53-Jährige.
Eine neue Analyse des Krankenkassenverbandes Santésuisse zeigt: Die Gesundheitskosten von jungen Frauen explodieren – weil sie vermehrt psychiatrisch behandelt werden müssen. Spüren Sie diese Entwicklung im Klinikalltag, Frau Walitza?
Ja. Bei fast allen unseren Angeboten, vom Notfall bis zur stationären Behandlung, sehen wir mehr Mädchen. Mit welchen Problemen kommen sie in Ihre Behandlung? Viele leiden an Schlafstörungen, machen sich Sorgen über die Zukunft, haben Angst vor der Schule oder ziehen sich sozial zurück. Aber auch körperliche Beschwerden nehmen zu.
Sind das schon psychische Erkrankungen?
Das kommt auf die Ausprägung an und wie sehr sich die Jugendlichen dadurch beeinträchtigt fühlen. Mädchen leiden vor allem unter Angst, Depressionen, Zwangs- oder Essstörungen. Jungs an ADHS vom hyperaktiven Typ, Gamesucht und anderem Suchtverhalten.
Sind die Jugendlichen heute einfach empfindlicher?
Nein. Mein Vorgänger hat vor 25 Jahren die einzige repräsentative Studie bei Jugendlichen im Kanton Zürich gemacht. Da haben schon 20 Prozent der Schülerinnen die Kriterien für eine psychische Problematik erfüllt, 10 Prozent waren behandlungsbedürftig.
Was ist heute anders?
Viel mehr dieser Jugendlichen kommen zu uns – auch weil die Psychotherapie nicht mehr so stark stigmatisiert ist. Klar zugenommen haben Störungen, die durch Stress ausgelöst werden. Ich zitiere da gern eine Schülerin: Mädchen machen sich selbst Stress, Jungs machen sich gegenseitig Stress. Dieser Stress wird immer mehr, und sie können ihn nicht mehr bewältigen. Leider haben auch Selbstverletzungen und Suizidversuche zugenommen.
«Die Psychotherapie ist nicht mehr so stark stigmatisiert»
Susanne Walitza
Warum sind Mädchen stärker betroffen?
Mädchen ab 13 Jahren waren schon immer unsere grösste Patientengruppe. Sie sind empfindsamer und reagieren stärker auf die Aussenwelt. Sie haben ein grosses Verantwortungsgefühl und nehmen sich gesellschaftliche Probleme mehr zu Herzen. Wenn wir jetzt die Zunahme der Krisen anschauen, passt es gut, dass gerade Mädchen stärker darauf reagieren.
Sprechen Sie da Corona an?
Ja, aber nicht nur. Seit zehn Jahren befinden sich die Jugendlichen in einer Dauerkrise. Die Klimaangst beschäftigte sie schon vor der Pandemie. Dann kam Corona, und jede und jeder spürte: Die sichere Welt ist nicht mehr so sicher. Wenn die Eltern plötzlich auf Kurzarbeit sind oder gar nicht mehr arbeiten können, weil etwa die Restaurants geschlossen sind, beeinflusst das die Jugendlichen stark. Und dann kam auch der Krieg in der Ukraine dazu.
Aber der Krieg ist ja nicht hier.
Die Jugendlichen haben keine Angst, dass der Krieg ins Land kommt. Aber sie sehen: Der Weltfrieden ist nicht mehr garantiert. Es ist also die Summierung von Krisen, die Ängste und Stress auslöst. Wenn Jugendliche spüren, dass sie den Veränderungen der Aussenwelt ausgeliefert sind, versuche sie, sich selbst mehr zu kontrollieren.
Welchen Einfluss haben die sozialen Medien?
Einen grossen. Während der Pandemie konnten sich die Jugendlichen dank den Onlineplattformen weiterhin austauschen …
… aber?
Soziale Medien sind ein Risiko, sobald man mehr als drei Stunden täglich mit ihnen verbringt. Gerade bei den Mädchen, die sich auf Instagram und Co. einem endlosen Vergleich aussetzen und unrealistischen Vorbildern nacheifern. Früher waren die Schülerinnen froh, wenn sie drei, vier Freundinnen in der Klasse hatten. Heute wollen sie Hunderte von Likes. Die Selbstoptimierung nimmt bei den Mädchen so viel Raum ein, dass sie gar keine richtigen Erfahrungen mehr machen können.
Und die Jungs?
Die jungen Männer spielten während der Pandemie eher Online-Games, konnten beim Verlieren Frust abbauen und beim Siegen Erfolgsgefühle erleben. Die Jugendlichen selbst gaben bei unserer Studie von 2021 allerdings die Schule als grössten Stressor an.
Wieso?
In der Schweiz haben wir vergleichsweise hohe Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler. Schon in der Primarschule kommt die Frage nach dem Gymnasium. Im Gegensatz zu den Erwachsenen, welche von den Arbeitgebern während der Pandemie so gut wie möglich entlastet wurden, mussten die Kinder weiterhin viel leisten. Etwa gleich viele Prüfungen schreiben. Schon vor der Pandemie war zu sehen, dass Stress, Schmerz und körperliche Leiden wie Rückenschmerzen mit der Schule verbunden sein können. Hier liesse sich präventiv viel machen, aber dazu braucht es Ressourcen.
Was können die Schulen denn machen?
Fürsorgliches Verhalten innerhalb der Klassen trainieren. Frankreich hat damit während der Pandemie gute Erfahrungen gemacht. Helfen würde auch, wenn wir als Therapeutinnen und Therapeuten noch mehr in die Schulen gehen könnten.
«Ich bin ein Fan der Jugend»
Susanne Walitza
Und was ist mit der Familie?
Die Familie ist eine enorm wichtige Ressource, die wir stärken müssen. In einer Unicef-Studie zur psychischen Gesundheit der Jugendlichen in der Schweiz und in Liechtenstein von 2021 hat sich ein Drittel der Befragten beklagt, niemanden zum Sprechen zu haben. Wenn das Kind durch die sozialen Medien scrollt oder gamt, denken die Eltern, dass es beschäftigt ist. Ich rate den Eltern, die Kinder immer wieder proaktiv anzusprechen: «Wie ist es in der Schule? Wie läuft es mit deinen Freunden?» Oder ihnen eine gemeinsame Aktivität wie Klettern anzubieten.
Von Social-Media-Verboten halten Sie nichts?
Es kommt sicher aufs Alter an – aber Verbote führen meist dazu, dass Dinge heimlich gemacht werden. Viel wichtiger ist, Vorbild zu sein. Gehen Sie heute mal auf einen Spielplatz: Statt mit anderen Eltern zu reden, starren viele ins Handy. Bei deren kleinen Kindern sieht man oft im Gesicht, welche Enttäuschung das auslöst. Wenn man mit Jugendlichen etwas gemeinsam unternimmt und ständig aufs Handy schaut, tun sie einfach dasselbe. Die Digitalisierung hat uns überrollt – nun gilt es, uns neu aufzustellen.
Bei welchen Warnzeichen sollen die Eltern reagieren?
Wenn das Kind sich zurückzieht, sich nicht mehr mit Freunden trifft. Ein Alarmzeichen ist, wenn es nicht mehr zur Schule gehen will. Auch Schlafstörungen können ein Indiz sein.
Jugendliche benötigen mehr Hilfe – doch in der Schweiz herrscht ein akuter Mangel an Therapeuten, besonders in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Letztes Jahr konnte man von Wartefristen bis zehn Monate für einen Therapieplatz lesen!
In unserer Branche arbeiten mehr Frauen, oft Teilzeit. Zudem sind viele bereits im Pensionsalter. Das Problem ist auch, dass die Therapie von Kindern und Jugendlichen intensiver ist, man arbeitet ja immer noch mit den Eltern zusammen. Und die Jugendmedizin wird im Vergleich nicht angemessen bezahlt. Aber wir wollen nicht nur jammern. In den letzten zwei Jahren wurde enorm investiert. Etwa in Kriseninterventionszentren wie in Zürich beispielsweise das neue Life. Darum gibt es für Notfälle keine Wartezeiten.
Wie funktioniert denn das Life?
Jugendliche und Eltern können sich direkt dort melden, es ist also sehr niederschwellig. Bei akuten Krisensituationen, etwa Suizidgedanken, ist es wichtig, dass wir schnelle Hilfe anbieten können und keine unnötigen Wartezeiten entstehen. Ein fixes Team begleitet die Jugendlichen. Das kann stationär sein, für einen Tag oder ambulant. Wir halten immer Plätze frei. Ziel ist, Jugendliche in einer Krise aufzufangen, damit sie so schnell wie möglich wieder in ihre Familie und in die Schule zurückkehren.
Und wie tun Sie das?
In der Therapie und der Beratung definieren wir die Ressourcen der Jugendlichen. Was interessiert sie? Was können sie schon? Was würden sie gern machen? Gemeint sind Dinge, die im realen Leben stattfinden. Zum Beispiel Freundinnen treffen, singen, malen.
Angesichts all dieser Herausforderungen: Warum sind Sie Jugendpsychiaterin geworden?
Eigentlich wollte ich Künstlerin werden, aber da fehlte dann doch etwas das Talent (lacht). An Kindern und Jugendlichen fasziniert mich, was alles möglich ist. Klar ist der Job emotional belastend, doch die Jungen geben einem viel – nämlich Leidenschaft. Ohne die Jugend würde es heute kaum vegetarisches Essen geben, und wir würden nicht so politisch über das Klima diskutieren. Ich bin ein Fan der Jugend! Und ich sehe übrigens auch die positiven Seiten davon, dass so viele Mädchen psychologische Hilfe suchen.
Inwiefern? Die Sensibilität ist ihre grosse Stärke. Kurzfristig sind Mädchen sehr be- lastet, mittel- und langfristig können sie aber mit einer tiefen Auseinandersetzung bessere Strategien für Krisen entwickeln.