Auf Zehenspitzen schleiche ich in die Wohnung meiner Freundin. Schliesse die Tür sofort hinter mir zu. Ich fühle mich wie ein Eindringling in den fremden Wänden. Huch, da bin ich also. Mann und Kinder im Haus auf der anderen Seite der Stadt, in einem ruhigen Familienquartier. Ich nun für zwei Wochen hier, mitten im pulsierenden Teil von Zürich. Mit Bars und Restaurants, unbekannten Plätzen, neuer Geräuschkulisse, fremden Gerüchen und dem Wichtigsten: ganz viel Zeit für mich allein!
Vor zwei Monaten sagte ich zur Freundin: «Ich brauche mehr Raum für mich. Eine Auszeit von meiner Familie täte mir gut.» Sie antwortete: «Komm doch in meine Wohnung. Im Juni bin ich zwei Wochen weg.»
Das klingt jetzt alles so leicht und mühelos. Ist es im Grunde genommen auch. Wenn wir in einem stillen Moment aufmerksam in uns hineinhorchen, erkennen wir unsere Bedürfnisse meist sehr genau. Nur, wann hat man als Mutter diese stillen Momente? Eben. Nie. Die muss man sich schon nehmen. Manche werden aus Erschöpfung dazu gezwungen. Andere erhalten von aussen einen Impuls.
«Auch nach drei Tagen sind WC und Lavabo noch blitzeblank. Und niemand will etwas von mir. Ich muss an keine Termine denken. Keinen Streit schlichten. Nichts kochen. Wahnsinn! Was fange ich bloss mit so viel Freiheit an?»
Mein Stüpfer war unsere Tochter. Sie wurde im März 18 Jahre alt. «Wow, volljährig! Ich hab eine Runde geschafft!», dachte ich und fühlte die Grösse dieses Gedankens bis in die hinterste Zelle. Ich habe meiner Familie gern alles gegeben, ohne mich vollständig aufzugeben.
Ausschliesslich Mutter und Hausfrau wollte ich von Beginn weg nie sein. Ich habe mit zwei Kindern ein Germanistik-Studium abgeschlossen und immer Teilzeit gearbeitet. Ein drittes Kind, unser Nesthäkche, folgte nach dem Studium. Eine Familie setzt trotzdem Grenzen und schränkt freie Entscheidungen klar ein. Das konnte ich in diesen zwei Wochen nun alles hinter mir lassen.
Ich lege ein paar Bücher neben mein neues Bett. Wo meine Bücher sind, bin ich zu Hause, denke ich, rolle meine Yogamatte aus und setzt mich mitten in der Stube in einem aufrechten Sitz hin. Lasse die noch fremde Umgebung auf mich wirken. Erst mal ankommen.
«Damit eine Auszeit sich richtig entfalten kann, braucht es mehr als drei Tage. Und einen klaren Schnitt. Also weder Sms noch Telefonanrufe.»
Die ersten drei Nächte schlafe ich furchtbar schlecht. Der Tapetenwechwsel ist viel zu aufregend. Ich habe nie alleine gelebt. Nach der Matura war ich ein Jahr auf Reisen und für kurze Zeit in einer WG. Dann Peng, mit 22 schwanger! Seit 19 Jahren lebe ich mit meiner Familie unter einem Dach.
Zu Fuss erkunde ich meine neue Umgebung. Kaufe mir Lebensmittel. Komisch, nur für eine Person einzukaufen. Eine Mini-Butter und ein Brötchen reichen fürs Frühstück. Für meine Familie fülle ich sonst mehrere Taschen. In der Wohnung gibt es auch nichts aufzuräumen. Keine Schuhe, keinen Thek, keine Spielsachen, die herumliegen. Kein Grossabwasch. Auch nach drei Tagen sind WC und Lavabo noch blitzeblank. Und niemand will etwas von mir. Ich muss an keine Termine denken. Keinen Streit schlichten. Nichts kochen. Wahnsinn! Was fange bloss ich mit so viel Freizeit an?
Ganz einfach: Ich gehe raus. Zürich wird in dieser Zeit von einer Hitzewelle überrollt. Ich nehme jeden Tag ein Bad in der Limmat. Lasse mich rücklings mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen vom Fluss treiben. Liege in der Wiese und schaue in die Baumkrone ob mir und zu den Blättern, die vereinzelt zittern. Sauge die Sonnenstrahlen auf meiner Haut auf und die viele Zeit. Diese wunderbare, ungestörte Zeit! Nachts spaziere ich auf Wegen, die ich selten gehe. Einmal über die Brücke zu den Viadukt-Bögen.
Die weissen Kuppeln der Läden sehen aus wie riesige Strausseneier. Ein Zug rast vorbei und zeichnet eine leuchtende Linie in die Dämmerung. Ich bleibe stehen und schaue zu bis die Linie sich wieder auflöst. Und natürlich mache ich ab. Treffe mich zum Essen oder auf einen Drink mit Freunden, die ich zum Teil schon ewig nicht mehr gesehen habe. Auch um Mitternacht ist es draussen noch herrlich warm. Laue Sommernächte laden zum Verweilen ein.
Zu Beginn plane ich, nur für ein paar Tage in die Wohnung der Freundin zu gehen. Um dort ein bisschen durchzuschnaufen. Rasch merke ich aber, dass das wenig Sinn macht. Damit eine Auszeit sich richtig entfalten kann, braucht es mehr als drei Tage. Und einen klaren Schnitt. Also weder Sms noch Telefonanrufe.
Mit meinen beiden Grossen, 18 und 14, treffe ich mich einzeln je einmal für einen Schwumm in der Limmat. Losgelöst von den Pflichten und der Hektik des Familien-Alltags kann ich ihnen endlich einmal meine volle Aufmerksamkeit schenken. Ich höre ihnen mit frischen Ohren zu und erkenne ihre Bedürfnisse viel klarer. Das werde ich in Zukunft öfter tun. Beim Jüngsten, 7, melde ich mich absichtlich nicht. Die Betreuung ist perfekt organisiert. Ich weiss, er ist gut aufgehoben und würde mich bei einem Telefon nur erneut vermissen.
Ich dagegen finde gegen Ende meiner Auszeit genau dieses Gefühl wunderbar: Ich vermisse meinen Mann und meine Kinder. Wenn man ständig in der Familie drinsteckt, sich praktisch täglich sieht, hat man gar nie die Möglichkeit dazu. Eine grossartige Erfahrung! Mit neuem Schwung und mehr Gelassenheit kehre ich zurück. Auch mit tiefer Dankbarkeit für meine Liebsten. Und genau deswegen ist für mich klar: Das mache ich wieder.