Familien zerstreiten sich und jahrelange Freundschaften gehen zu Bruch – alles wegen der Corona-Impfung. Kennen Sie das?
Auch ich habe in meinem Umfeld teilweise schwierige Diskussionen erlebt. Offenbar geht uns diese Situation wirklich unter die Haut.
Sie sind Ethikexpertin. Was machen Sie in solchen Momenten?
Versuchen zu verstehen. Keine Schuld zuweisen und nicht gleich anklagen. Von der persönlichen Betroffenheit erzählen. Hoffnung ausdrücken. Das hilft manchmal, um Brücken zu bauen.
Aktuell machen Balkan-Reisende Schlagzeilen, die ungeimpft auf den Intensivstationen landen. Ist das eine berechtigte Debatte?
Da kommen Ressentiments zum Vorschein.
Ist es denn rassistisch, wenn ich nicht möchte, dass die Intensivstationen überfüllt sind?
Nein, aber man müsste sich fragen, wie man die Migrationsbevölkerung erreicht in dieser Thematik. Gezielte Information ist wichtig.
Gibt es eigentlich eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen?
Es gibt eine moralische Pflicht, bei diesem Entscheid auch an die Gesellschaft als Ganze zu denken: Was bedeutet mein Handeln nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen?
Und überlegen sich die Menschen das?
Ja. Vor allem von Jugendlichen höre ich das sehr häufig. Sie lassen sich meist nicht aus Sorge um die eigene Gesundheit impfen, sondern als Beitrag zur Bewältigung der Pandemie.
Ist es unsolidarisch, sich nach all diesen Überlegungen trotzdem nicht impfen zu lassen?
Da sind wir mitten in der ethischen Diskussion und es gilt, verschiedene Aspekte zu beachten.
Schiessen Sie los.
Wir müssen uns bewusst sein, dass wir alle im Moment unter Unsicherheit denken und handeln. Die Situation ist dynamisch, wir können uns auf wenig verlassen und sehen das Ende nicht. Das ist anstrengend und belastend. Am liebsten hätten wir klare, einfache und verlässliche Antworten – von der Wissenschaft, von der Politik. Doch die gibt es derzeit nur beschränkt.
Und wie sollen wir damit umgehen?
Grosszügig und bescheiden.
Wie meinen Sie das?
Sich zum Beispiel bescheiden eingestehen, dass wir insgesamt noch relativ wenig wissen über Corona und die Massnahmen dagegen. Was heute vermeintlich sicher ist, ist morgen womöglich schon überholt. Und grosszügig sollten wir sein, weil viele von uns in der einen oder anderen Art betroffen sind und schwierige Zeiten durchleben.
Noch mal: Ist es unsolidarisch, sich nicht impfen zu lassen?
So würde ich das nicht sagen.
Sondern?
Man macht es sich zu einfach, wenn man meint, alle Nicht-Geimpften seien «Impfgegner», denen Allgemeinwohl und Solidarität egal sind. Es ist komplexer.
Inwiefern?
Die Gründe, warum sich Menschen nicht impfen lassen sind unterschiedlich. Bei einer Gruppe spielen Ängste eine Rolle: Was macht diese Impfung mit mir? Bei einer zweiten Gruppe steht eher das Nicht-Wissen im Vordergrund. Es fehlen die Ressourcen, um sich überhaupt über die Impfung zu informieren und den Nutzen zu verstehen.
Und was ist mit jenen, die genügend Ressourcen und keine Angst haben – die Impfung aber einfach nicht wollen?
Die Gruppe dieser Impfgegner ist nach meiner Einschätzung relativ klein.
Aber relativ laut?
Ja. Es gibt eine Gruppe, die Impfgegner bleiben werden. Aber es gibt auch Unsichere und Unschlüssige. Je gehässiger die Debatte übers Impfen geführt wird, desto ungünstiger ist das, wenn man diese Menschen überzeugen möchte. Es braucht uns alle, um die Situation zu bewältigen. Ausgrenzung ist kein guter Ratgeber.
«Ich würde mit meiner neunjährigen Tochter die Vor- und Nachteile der Impfung besprechen. Dann wäre es an ihr, zu entscheiden.»
Andrea Büchler
Ihre jüngere Tochter ist neun Jahre alt. Inwiefern ist sie von Corona betroffen?
Ich unterrichtete sie während des ersten Lockdowns vier Wochen zuhause. Die erste Woche war…(lacht)... sehr herausfordernd! Immerhin: Die Schweiz hat einen Digitalisierungsschub erlebt – etwas Positives an der ganzen Sache.
Worüber diskutieren Sie mit Ihrer Tochter beim Znacht?
Über die Maskenpflicht. Oder über Schüler und Lehrerinnen, die wegen Vorerkrankungen besonderen Schutz brauchen. Ihre Schule hat denn auch gleich das Thema Viren behandelt.
Würden Sie Ihrer Tochter eine Impfung empfehlen, wenn sie alt genug ist?
Ich würde mit ihr Vor- und Nachteile besprechen, dazu ein wenig recherchieren, dann wäre das an ihr zu entscheiden.
Sind auch in Ihrem Umfeld Menschen an Corona erkrankt?
Ja, meine Firmgotte ist mit 90 an Corona gestorben, noch bevor es eine Impfung gab.
Ist es zynisch, zu betonen, dass vor allem ältere Menschen an Corona sterben?
Ja, das war zu Beginn der Pandemie eine sehr schwierige Diskussion. Heute ist sie seltener, zumal auch jüngere Menschen häufiger schwere Verläufe haben. Die Hälfte der jetzt Hospitalisierten sind unter 53.
Sie möchten, dass Corona-Tests gratis bleiben. Warum?
Müssen die Menschen die Tests wieder selber bezahlen, werden sozial schon benachteiligte Personen ausgeschlossen, obwohl sie nachweislich keine Gefahr für andere darstellen. Deshalb denke ich nicht, dass dies der richtige Weg ist.
Was ist Ihrer Meinung nach der richtige Weg?
Ich hoffe, dass sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen. Und dass sich die Gräben zwischen uns nicht vertiefen. Wir müssen anerkennen, wie komplex diese Situation ist. Und dem Impuls widerstehen, alles Schwarz-Weiss zu sehen. Als Familienrechtlerin kenne ich diese Versuchung nur zu gut.
Was meinen Sie?
Bei Scheidungen gibt es auch meist einen vermeintlich Schuldigen. Ambivalenz muss man aushalten können.
Die 52-jährige Juristin ist Mutter zweier Töchter (31 und 9), Professorin für Privatrecht an der Uni Zürich und seit 2016 Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin.
Natalie Ricklis Aussage, Ungeimpfte müssten eigentlich auf eine ärztliche Behandlung verzichten, polarisiert.
Ich halte diese Aussage für hoch problematisch, sie rüttelt an tragenden Grundsätzen unserer Gesundheitsversorgung: Solidarität und Gerechtigkeit.
In anderen Ländern ist das Vorzeigen des Covid-Zertifikats bereits ganz normaler Teil des Alltags geworden. Warum wehren sich die Schweizer so dagegen?
Ich glaube, es gibt in der Schweiz mehr als anderswo eine Hemmung, das Persönliche zu offenbaren. Anfangs fand auch ich die Vorstellung, vor einem Kinofilm mein Covid-Zertifikat zeigen zu müssen, ziemlich befremdlich.
Sind wir schlicht nicht gewohnt, uns überhaupt mal einschränken zu müssen?
Es hat uns definitiv dort getroffen, wo wir sehr empfindlich sind – im Privaten und im Bedürfnis nach Sicherheit und Freiheit.
Ist es dekadent, als Schweizer auf den Impfstoff zu verzichten, wenn Menschen anderswo froh drum wären?
Nein. Aber die Schweiz muss sich dafür engagieren, dass auch andere Länder Zugang zu Impfstoff erhalten.
Wie haben Sie selbst die Zeit seit Beginn der Pandemie empfunden?
Mir hat geholfen, durch meine Funktion eine Aufgabe und in Kleinen auch eine Verantwortung zu haben. Dadurch habe ich mich weniger ausgeliefert gefühlt. Corona macht uns wütend und erschöpft, körperlich und emotional. Es wird von uns derzeit eine unglaubliche Flexibilität abverlangt.
Zeit, dass wir uns alle auf die Schultern klopfen?
Ich finde ehrlich gesagt: Ja! Man es auch mal so sehen, dass wir diese Situation bisher ganz gut meistern