Da eine Schlägerei, dort eine Messerstecherei, zuletzt sogar mit einem Todesopfer: Gewaltdelikte unter Jugendlichen machten in vergangener Zeit auffällig oft Schlagzeilen. Und tatsächlich: Mehrere Studien, zum Beispiel jene der Universität Zürich über die vergangen sieben Jahre, zeigen: 2021 erfuhren Jugendliche deutlich mehr Gewalt. Sexualdelikte sind unter Jugendlichen so verbreitet wie noch nie seit Messbeginn 1999, und auch Raubdelikte und Schulmobbing haben zugenommen. Prof. Dr. Dirk Baier,
Leiter Institut Delinquenz & Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, kennt die Gründe – und hat Tipps für beunruhigte Eltern.
Herr Baier, gemäss einer Studie der ZHAW begehen fünf Prozent aller Teenager drei Viertel aller Straftaten. Heisst das im Umkehrschluss: Wer wohlbehütet aufwächst, wird kaum Gewalt ausüben?
Was kleinere Delikte wie Ladendiebstahl oder Sachbeschädigungen angeht, ist der Anteil schon höher, das betrifft etwa einen Drittel, aber das ist kein Grund zur Beunruhigung. Eltern sollten nicht gleich Angst haben, wenn mal was kaputt geht oder sich Jugendliche zwischendurch raufen oder gar schlagen, das habe ich auch gemacht. Was die Mehrfach- und Intensivtäter betrifft, gab es zuletzt zwei, drei schwere Delikte, doch es ist wichtig, hier eine gewisse Gelassenheit zu vermitteln. Ein Anstieg der Jugendgewalt in den vergangenen sechs, sieben Jahren ist Fakt, aber die Zahlen haben recht wenig mit einer Verschlechterung in den Familien zu tun. Im Gegenteil: In der Familie hat sich die Situation eher verbessert.
Was ist dann der Grund für die steigende Jugendgewalt?
Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Es hat auch nicht mit einer Verschlechterung der sozialen Situation zu tun. Ursachen finden wir eher in kulturellen Veränderungen. Ein Beispiel: 2016 wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt. Der Führer der Welt, der mit einer solchen Dominanz auftritt, solche Geschlechterbilder vertritt – wenn Menschen wie er in solchen Vorbildrollen unterwegs sind, macht das etwas mit uns, auch mit Jugendlichen. Sich aggressiv durchzusetzen, sich nehmen was man will, ist wieder salonfähig geworden. Für identitätsschwache junge Menschen auf der Suche ist das reizvoll. Auch aus der Rap-Welt gibt es solche Vorbilder. Auf dieser Ebene hat sich etwas zum Negativen verschoben. Die Studie der Universität Zürich zeigt diese negative Veränderung: Aggressive Konfliktlösungsmuster haben zugenommen.
Was können Erziehungsberechtigte diesbezüglich tun?
Eltern können vorbeugen, dass ihre Kinder nicht auf eine gewisse Bahn geraten. Schwieriger ist es, zu intervenieren, wenn man ein Kind hat, das bereits immer wieder in Konflikte gerät. Oder anders gesagt: Eltern können ein Kind davor schützen, in den Brunnen zu fallen. Wenn es schon in den Brunnen gefallen ist, sind ihre Möglichkeiten begrenzt. Hier braucht es dann einen Verbund: Holen sie sich Hilfe von aussen, von Profis, Psychologen etc. Auch Eltern von Mehrfachtätern sollen die Schuld nicht nur bei sich suchen. Wollen sie etwas unternehmen, sollten sie mit Polizei und Sozialarbeit zusammen arbeiten.
Und wie können Erziehungsberechtigte den «Fall in den Brunnen» verhindern?
Da können sie viel tun. Ich nenne immer drei zentrale Leitlinien. Zum einen sind Interesse und Kommunikation wichtig: Interesse zeigen am Tun und Leben der Kinder, Medien gemeinsam konsumieren, zusammen reden, sich austauschen, beim Abendessen gemeinsam am Tisch sitzen, über den Tag reden, neugierig sein, so bekommt man frühzeitig ein Gespür dafür, wenn etwas nicht gut läuft. Problematisch wird es immer dann, wenn Kinder sich nicht frühzeitig öffnen und über ihre Probleme reden. So banal es klingt, Interesse am Kind zeigen und gut kommunizieren, indem man bewusst Räume schafft, um miteinander zu sprechen, so beugt man Konflikten am besten vor.
Und was ist ihr dritter Tipp?
Der ist ebenfalls super banal: In jeglicher Form auf Gewalt zu verzichten, auf physische Gewalt ebenso wie auf psychische Gewalt: das Kind nicht beleidigen, nicht anbrüllen. Wer diesen Leitsternen der Erziehung folgt, macht schon ganz viel richtig. In der konkreten Umsetzung ist es manchmal schwierig, solche Inseln zu schaffen, etwa wenn man alleinerziehend und berufstätig ist.
Die Studie nennt weitere Einflussfaktoren von Jugendkriminalität, etwa eine geringe Selbstkontrolle.
Selbstkontrolle ist auch abhängig vom Erziehungsstil im Elternhaus. Man kann einem Kind helfen, seine Selbstkontrolle zu stärken, indem man mit ihm gemeinsam den Bedürfnisaufschub trainiert. Selbstkontrolle bedeutet ja, bei allem was man tut auch an die Zukunft zu denken und nicht nur das unmittelbare Bedürfnis zu stillen. Das kann man mit Kindern erlernen, zum Beispiel ganz einfach mit Schokolade, indem man ihnen erklärt, warum es keine gute Idee ist, die ganze Tafel zu essen, und bei allem auch immer hartnäckig bleibt. Ein weiterer sehr zentraler Punkt ist das Ausgehverhalten.
Was ist bezüglich Ausgehverhalten wichtig aus Elternsicht?
Dass man nicht erst bei 16-Jährigen plötzlich Regeln aufstellt, wann sie zu Hause sein müssen, sondern mit Kindern von klein auf Abmachungen eingeht. Mit meiner Tochter habe ich zum Beispiel die Vereinbarung, dass sie immer am Wochenende eine halbe Stunde Klavier übt. Wann sie es tut, kann sie selbst einteilen. Und es steht ihr auch offen, dass sie es nicht macht – aber dann ist vielleicht die Klavierlehrerin sauer. Das zeigt auch: In der Erziehung ist man nie allein. Die Tochter nimmt das Üben dadurch nächste Woche vielleicht ernster. Wichtig ist, hartnäckig zu bleiben, auf der Vereinbarung zu beharren. Ein Handyverbot als Sanktion wäre hingegen völlig unsinnig. Was hätte das miteinander zu tun? Lieber kreativ sein, sich mit anderen Eltern austauschen, erfahren, was bei ihnen funktioniert, offen sein für neue Ideen. Und auch hier gilt: Interesse zeigen und mit dem Kind reden. Warum hat es eigentlich keine Lust, auf dem Instrument zu üben? Alles ist ein Stück weit durch die Erziehung beeinflussbar.
Und wenn eine Situation im Strudel des Alltags dennoch aus dem Ruder läuft?
Dann soll man sich Hilfe holen. In der Schweiz sind wir da mittlerweile ein ganzes Stück weiter. Wir haben Sozialarbeitende an den Schulen. Mit denen hatte ich als Vater auch schon Kontakt, das hilft, eine Situation mal einzuordnen, wenn einen etwas bedrückt. Ich plädiere für mehr Nähe! Auch für die Sozialarbeitenden ist das gut, so bekommen sie viel mehr Informationen über die Kinder, etwa bei einer Trennung der Eltern, und können sich ihr Verhalten besser erklären. Auch der kostenlose Elternnotruf ist ein tolles Angebot. Sich aktiv nach aussen wenden, ein Problem im Verbund anpacken, sich von Profis helfen lassen. Erziehung betrachtet man immer als Privatsache. Wir sollten da grundsätzlich offener sein, in anderen Bereichen lassen wir uns ja auch helfen – und Erziehung ist wohl komplexer als mancher Beruf …