Wir sagen «Bitte», wenn wir was wollen. In Frankreich heisst es «s'il vous plaît», was so viel bedeutet wie: «Wenn es ihnen gefällt». Bereits die blumige Ausdrucksweise verdeutlicht, dass unseren westlichen Nachbarn gute Umgangsformen wichtig sind. Sie werden Kindern quasi mit der Muttermilch (oder dem Milchschoppen) eingeflösst. Jemanden nicht zu grüssen oder ein «Merci» auszulassen, kommt für französische Kinder gar nicht in Frage. Ihre Eltern halten sie dazu an, «Hallo» zu sagen und älteren Menschen im Bus einen Platz anzubieten. Einen Trotzanfall eines Dreikäsehochs in der Öffentlichkeit kriegt man kaum je zu sehen.
Der Grund dafür ist einfach: Französische Eltern bringen ihren Kindern früh wichtige Umgangsformen bei und bestehen darauf, dass diese eingehalten werden. «Es geht nicht um Bravheit, sondern um Respekt. Man bringt den Kindern auf diese Weise Empathie bei, man holt sie aus ihrer ichbezogenen Blase raus», sagt Pamela Druckerman, Sachbuchautorin («Warum französische Kinder keine Nervensägen sind) und Wahlfranzösin.
Mütter in Frankreich sollen, so heisst es, viel weniger unter dem schlechten Gewissen leiden, das berufstätige Mütter oftmals heimsucht (man hat den Eindruck, viel häufiger, als berufstätige Väter). Die Kinderbetreuung in der «Crèche», also in der Kinderkrippe, ab einem Alter von drei Monaten ist Gang und Gäbe – denn der reguläre Mutterschaftsurlaub dauert bis zehn Wochen nach der Geburt (es gibt allerdings die Möglichkeit, in verlängerte unbezahlte Elternzeit zu gehen).
Die Kita geniesst als Betreuungsform einen guten Ruf und den Kindern kommt dies zugute, sie sind früh in Kontakt mit Gleichaltrigen und neuen Menschen. Wie der renommierte Kinderarzt und Buchautor Remo Largo immer wieder betonte, kann die Betreuung in der Krippe der kindlichen Entwicklung zuträglich sein. «Das Kind entwickelt sich aus sich selbst heraus, wenn es die notwendigen entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann.» Dazu gehört laut Largo ein möglichst breites Spektrum an Einflüssen sowie der Kontakt zur Peer Group, also zu Gleichaltrigen. «Ein Kind sollte mehrere Stunden pro Tag mit Gleichaltrigen zusammen sein», schreibt Largo in einem seiner Bücher. «So lernt es zu sprechen, sich in andere Kinder einzufühlen, sich anzupassen, mit Konflikten umzugehen, Beziehungen zu pflegen und Freundschaften zu schliessen.»
Während hierzulande gefühlt jeder Sandkastenstreit sofort von übereifrigen Eltern geschlichtet wird (und die Kinder ergo keine Gelegenheit erhalten, selbst eine Lösung zu finden) gilt es in Frankreich als angebracht, den Kindern nicht zu oft reinzuschwatzen. Natürlich greifen auch französische Eltern ein, wenn es nötig ist. Aber grundsätzlich setzen französische Eltern viel Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Kinder, Situationen selbständig zu managen und Lösungen für ihre Probleme zu finden.
Laut Pamela Druckerman ist dieser Glaube an die eigenen Kinder ein zentrales Element der französischen Erziehung: «Die Franzosen glauben, dass auch Kleinkinder nicht hilflose Wesen sind, sondern vernunftbegabte, rationale Individuen. Dies führt dazu, dass man nicht in Babysprache, sondern ganz normal mit ihnen spricht. Man traut dem Kind von Anfang an etwas zu und erzieht sie vom Tag eins an.» Damit unterscheide sich Frankreich grundsätzlich von vielen anderen westlichen Staaten. «In vielen westlichen Ländern liegt der Fokus mehr auf Sicherheit und Kontrolle, in Frankreich mehr auf Autonomie. Man leitet die Kinder eher dazu an, etwas allein zu machen.»
«Laisser-faire», also die Kinder machen lassen, ist die eine Seite der typisch französischen Erziehung. Das «Laisser-faire» findet allerdings nicht völlig unkontrolliert statt, sondern innerhalb klar abgesteckter Grenzen. Der sogenannte «cadre» bezeichnet in der französischen Erziehung den Raum, in dem sich Kinder frei bewegen und entwicklen dürfen.
Werden Grenzen überschritten, schrecken französische Eltern nicht davor zurück, sie konsequent nachzuziehen. Ihnen scheint klar zu sein, dass sie nicht beste Freunde ihrer Kinder sind, sondern für deren Erziehung und Wohlbefinden verantwortlich. Dazu gehört nun mal auch, Kinder gewisse Schranken aufzuzeigen – ob die Kleinen das nun toll finden oder nicht, ist französischen Eltern ziemlich schnuppe.
Dass französische Kinder einfach alles essen, ist nicht etwa ein Ammenmärchen. Tatsächlich sind Kinder in unserem Nachbarland irgendwie weniger «schnäderfräsig». Was sich leicht erklären lässt, wenn man sich das Essverhalten französischer Familien anschaut.
Es gilt die weitläufige Überzeugung, dass sich Vorlieben für gewisse Geschmacksrichtungen nur entwicklen können, wenn man sie oft genug probiert. Französische Eltern machen ihre Kinder also zu guten Essern, indem sie deren möglichen Essenssonderwünschen gar nicht erst nachkommen. Es gibt, was auf den Teller kommt. Französische Kinder essen, was auch die Erwachsenen verspeisen. Keine Kindermenüs, keine Spezialzubereitungen. Auch Snacks und Zwischenmahlzeiten sind viel weniger etabliert als in der Schweiz. So scheint es, dass Kinder bei den Mahlzeiten einfach auch mehr Hunger haben. Was der Sache per se zuträglich ist.
Zwar machen französische Eltern ihre Kinder nicht zum Zentrum ihres Universums – es wird eher erwartet, dass das neue Baby sich in den bestehenden Alltag einfügt als umgekehrt – allerdings ist ihnen ihre Zeit mit der Familie äusserst wichtig. Sonntage gelten in Frankreich klar als Familientage, da gibts wenig dran zu rütteln. Am Sonntag treffen die Kinder keine Freunde und die Eltern nehmen sich Zeit für gemeinsam verbrachte Stunden oder einen Ausflug.