Für viele Familien startet im August ein neues und aufregendes Kapitel: Ihre Kinder werden eingeschult. Aus kleinen Kita-Kindern werden Erstkindergärtler. Was aber, wenn ein Kind bis dahin noch nicht gelernt hat, selbständig aufs WC zu gehen und immer noch Windeln braucht? Fakt ist: Kindergärtner:innen und Hortleiter:innen haben keine Kapazität, Kinder zu wickeln. Was tun?
Am besten, man sucht im Vorfeld das Gespräch mit der Lehrperson und findet gemeinsam eine Lösung. Während die einen Eltern dabei total entspannt bleiben, fühlen sich andere von der Situation gestresst, dass ihr Kind noch nicht trocken ist. Wir lassen zwei Mütter zu Wort kommen, die unterschiedliche Perspektiven haben.
«Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, können wir also bitte aufhören, alle über einen Kamm zu scheren? Dass Eltern sich Sorgen machen, wenn ihr Kind bei der Einschulung noch nicht trocken ist, kann ich so gut verstehen. Der Druck ist riesig, die Aufklärung klein. Darum hier ein wenig Wissen: Der renommierte Zürcher Kinderarzt Remo Largo wies in einer Langzeitstudie nach, dass 90 Prozent aller Kinder zu Beginn des 5. Lebensjahrs ihre Ausscheidungen aus Darm und Blase kontrollieren können. Das bedeutet aber auch: Jedes 10. Kind kann das in diesem Alter noch nicht.
Mit den Geburtenzahlen der Jahrgänge 2019 und 2020 gerechnet heisst das: Diesen Sommer kommen in der Schweiz rund 8000 Kinder in den Kindergarten, die tagsüber Windeln tragen. Da manche Eltern sich entscheiden, die Einschulung um ein Jahr zu verschieben, haben wir diese Zahl grosszügig abgerundet.Die genaue Zahl ist auch nicht entscheidend. Wichtig ist nur zu wissen: Es kommt gar nicht so selten vor, dass ein Kind bei Eintritt ins Schulsystem mit vier Jahren noch nicht trocken ist. Das ist normaler, als man denken könnte.
Darum lasst uns einen Blick auf die positiven Seiten des Langzeitwindeltragens werfen. Denn es hat tatsächlich auch Vorteile:
1. Unterwegs muss man nicht ständig nach Toiletten Ausschau halten. Auf der Autobahn, im Tram, am Strand… Eltern trockener Kinder beschäftigt die Frage nach der nächsten Toilette einfach permanent. Und das ist anstrengend.
2. Ja, der Aufwand ist grösser mit einem Kind, das man im Kindergartenalter wickeln muss. Aber genau dieses Kind hat sich vielleicht in den ersten vier Lebensjahren in anderen Bereichen dahingehend entwickelt, dass es den Alltag der Lehrperson erleichtert. Alles gleichzeitig geht halt nicht.
3. Je später ein Kind trocken wird, desto schneller kann es feinmotorische Aufgaben wie Hose zuknöpfen und Po wischen alleine meistern.
Zusammengefasst kann man sagen: Das Problem sind nicht gefüllte Windeln. Das Problem ist eine Gesellschaft, die Eltern Druck macht anstatt einen natürlichen Prozess in einem natürlichen Tempo zuzulassen. Druck nützt übrigens sowieso nichts, denn Trockenwerten ist ein Reifungsprozess. Töpfchentraining kann man sich also direkt sparen.»
«Ich würde sehr gerne in einer perfekten Welt leben, in der Kinder alle Zeit der Welt bekommen, um sich in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln. Ganz ohne Druck, ganz ohne Stichtag. Wie schön wäre es, wenn man Kinder einfach irgendwann zwischen dem 4. und 5. Geburtstag einschulen könnte. Oder, wenn es dann immer noch nicht parat ist, mit 6.
Nun leben wir aber nicht in einer perfekten Welt. Wir leben in einer Welt, in der die Realität ganz schön hart sein kann. Vor allem, wenn Kinder involviert sind. Ich finde es nicht mal das grösste Problem, dass Lehrpersonen nicht wickeln, dafür habe ich vollstes Verständnis, viel mehr sorge ich mich wegen Kinder, die andere Kinder auslachen. Ein Kind, das noch nicht trocken ist, bietet ja ganz viel Angriffsfläche, leider.
Ist es das einzige, das in seiner Klasse noch Windeln trägt, ist es möglicherweise von Anfang an ein Aussenseiter. Einen solchen Start ins Schulleben wünsche ich keinem Kind.
Schon klar, es ist doof, ein Kind nur deswegen zurückzustellen weil es noch nicht trocken ist. Ich glaube aber, dass man ihm langfristig einen Gefallen tut. Ein entspannter Start ohne Windeln ist eine gute Voraussetzung. Auch bin ich mir sicher, dass kein Kind langfristig etwas verpasst oder benachteiligt ist, wenn es noch etwas länger ein unbeschwertes Kita-Kind sein darf, dem man ein zusätzliches Jahr schenkt. Um trocken zu werden, um zu reifen und nicht zuletzt, um sich dann unbeschwert auf den Kindergarten freuen zu können.»
Das Problem, das ein Kind spät trocken wird, kennen auch Stars wie Kirsten Bell (43) und ihr Mann Dax Shepard (49). In einem Webserie offenbarte die Schauspielerin, dass ihre zweite Tochter im Alter von fünf Jahren immer noch Windeln trug.
Was aber sagt eine Kinderärztin zu Fünfjährigen, die noch immer Windeln tragen? Dazu haben wir in einem früheren Interview Dr. med. Caronline Benz, Kinder- und Jugendärztin und Leiterin der Entwicklungspädiatrischen Poliklinik Zürich, befragt:
Frau Benz, ist es «normal», dass Fünfjährige noch Windeln brauchen?
Im Rahmen der Zürcher Longitudinalstudien hat Remo Largo beschrieben, dass 85% der fünfjährigen Kinder nachts trocken sind und 90% tagsüber. Die meisten Fünfjährigen brauchen also keine Windeln mehr, einige wenige aber schon.
Sollten Eltern intervenieren, wenn ihr Kind mit fünf Jahren noch nicht aufs Klo geht?
Gerade nächtliches Einnässen ist in diesem Alter häufig ein Reifungsproblem, das nicht selten familiär gehäuft ist und dass sich durch vermehrten Druck nicht verbessern lässt. Geduldiges Abwarten ist angesagt.
Müssen Eltern überhaupt aktiv etwas dafür tun, dass ihr Kind die Windeln weglässt und auf Klo geht oder kommt das irgendwann von alleine?
Kinder sind generell interessiert daran, selbstständig und selbstbestimmt zu werden. Dafür brauchen sie aber Vorbilder. Wenn die Eigeninitiative erwacht ist, beginnt das Kind Interesse an der Toilette zu zeigen. Es will dabei wissen, was Eltern und Geschwister tun, wenn sie aufs Örtchen gehen. Gerade von älteren Geschwistern lässt sich viel abschauen. Daneben gibt es aber auch ein paar praktische Hilfen wie Kleider, die sich einfach selbst ausziehen lassen, ein Ring, der den Klodeckel verkleinert oder ein Schemel, wo das Kind die Füsschen darauf abstellen kann.
Gibt es einen richtigen Moment, um mit dem Sauberkeitstraining zu beginnen?
Wenn die biologischen Funktionen heranreifen, wird dem Kind der Drang, die Blase oder den Darm zu entleeren, bewusst. Dies drückt es mit seinem Verhalten aus: Es verzieht sein Gesicht, nimmt eine charakteristische Körperhaltung ein und macht, vielleicht auch mit Worten, darauf aufmerksam. Dann ist es wichtig, das Kind ernst zu nehmen. Oft eine stressige Zeit für die Eltern. Zuhause klappt es zwar, aber wie ist es beim Einkaufen auf dem Spielplatz? Wird dann die Windel der Einfachheit halber angezogen, signalisiert man dem Kind unter Umständen: Es ist nicht wirklich wichtig trocken zu werden, es geht auch mit Windel. So gewöhnt sich das Kind möglicherweise bewusst und willentlich in die Windel zu machen – ein Verhalten, das dann nur mit grossem Aufwand wieder verändert werden kann.