Langsam flacht die regelmässig ausschlagende Herzfrequenz-Kurve auf dem Monitor ab, bis das geschieht, was wir meist nur aus Filmen kennen: Anstelle der hochschiessenden Bergzacken ist nur noch eine monotone Tallinie sichtbar. Das walnussgrosse Herz der kleinen Niza hat aufgehört zu schlagen. Im Operationssaal in Siem Reap, Kambodscha, herrscht Stille. Und Konzentration: Denn ausnahmsweise ist der vermeintliche Exodus genau das, was die Ärzte wollen. Die Herz-Lungen-Maschine hat übernommen. Die Operation am stillgelegten Lebensorgan kann beginnen …
René Prêtre, Kinderherzchirurg und Schweizer des Jahres 2009, steht gegenüber von Ponn Ladin, seinem kambodschanischen Kollegen, und dessen «Lehrling» Ramy Long – einem jungen Chirurgen, der in der neu eröffneten Herzabteilung in Phnom Penh bereits einfache Eingriffe selbst vornehmen kann. Mit ihren Vergrösserungsbrillen und den Stirnlampen, die jede Kopfbewegung in eine Lichtshow verwandeln, wirken die drei Ärzte wie Ausserirdische. Ihre Mission: Kindern mit komplizierten Herzfehlern ein neues Leben schenken.
Und im Falle von Ladin und Long: vom grossen Meister aus der Schweiz lernen! René Prêtre, Bauernsohn aus dem Jura und heutiger Direktor der Klinik für Herzchirurgie am Unispital Lausanne sowie Leiter der Kinderherzchirurgie in Genf, kommt regelmässig in die Kantha-Bopha-Spitäler, um zusammen mit seinem Team das zu 100 Prozent kambodschanische Personal weiterzubilden. «Mittlerweile braucht es mich kaum noch – die können fast alles alleine und vermutlich bald besser als ich», meint Prêtre schmunzelnd.
Das klang vor zehn Jahren, bei seinem ersten Besuch, noch etwas anders. «Tu rêves» – «Du träumst», rief er, als Spital-Gründer Beat Richner ihm eröffnete, er wolle nun auch Operationen am offenen Herzen durchführen. «Das ist nicht wie ein Zahnarztbesuch! Für solche Eingriffe brauchst du die nötige Infrastruktur, komplizierte Geräte, viel Know-how.» Richner liess sich – wie so oft – nicht beirren. Jene Kinder, die in seinen Spitälern noch starben, taten dies oft aufgrund von Herzfehlern. Also machte er einen Massnahmenplan. 2011 meldete er sich bei Prêtre: «Wir sind bereit. Wann kommst du?»
Die kleine Niza Sok wirkt – umgeben von rund 20 Fachleuten – verschwindend winzig auf ihrem OP-Tisch. Ihr Kopf mit dem silbernen Häubchen liegt hinter einem durchsichtigen Trennvorhang, blaue Tücher bedecken den Körper. Das zehnmonatige Mädchen hat mit knapp fünf Kilo das Gewicht einer Dreimonatigen. Ein Loch im Herz und eine zu enge Verbindung zur Lunge haben verhindert, dass sie normal wächst. Niza ist ein sogenanntes «Blue Baby»: Blaue Fingernägel und Lippen zeugen davon, dass aufgrund des angeborenen Herzfehlers nie genug Sauerstoff ins Blut gepumpt wird. Für ein normales Leben reicht ihr Schnauf schlichtweg nicht aus.
«Wir lassen Beats Träume Wirklichkeit werden. Das ist anstrengend. Aber auch schön»
Denis Laurent
Das soll sich nun ändern. Während Mutter Srey Pov, 29, und Vater Daro, 24, draussen um ihr erstes und einziges Kind bangen und beten, wagen sich Prêtre, Ladin und Long an den heiklen Part: Sie rekonstruieren feinste Verbindungen zwischen Herz und Lunge, bohren Löcher in Gefässwände, dünn wie Zigarettenpapier, Hundertstelmillimeter für Hundertstelmillimeter. Zu allem Übel ist Nizas Organ auch noch spiegelverkehrt aufgebaut. «Fühlt sich an wie Linksverkehr in England», meint Prêtre abgeklärt. Und Ladin, der sein von Armut geprägtes Land so gut wie nie verlassen hat, nickt bewundernd.
«Mich braucht es kaum noch. Die Ärzte hier können fast alles alleine»
René Prêtre
• 4'000 Patienten stehen in Dr. Richners Spitälern auf der Warteliste für eine Herz-OP.
• 30'000 Dengue-Fälle verzeichnete Kantha Bopha im Sommer. «Wir stiessen an unsere Grenzen», sagt Chefarzt Yay Chantana.
• 43,5 Millionen Franken kostet der Betrieb der fünf Kinderspitäler Jahr für Jahr.
Emotionen, sagt René Prêtre, seien bei solchen Eingriffen hinderlich. Seinen Studenten erklärt er das so: «Wenn ich euch ein zehn Zentimeter breites Brett auf die Strasse lege, läuft ihr problemlos drüber. Wenn sich dieses Brett aber zehn Meter über dem Boden befindet, schafft ihrs nicht mehr.» Er sehe am OP-Tisch deshalb primär ein Herz und dessen Eigenheiten. Erst wenn etwas schieflaufe, blicke er hinter den Vorhang und nehme wahr, wer dort liegt. «Fehler verzeiht man sich in meinem Job nicht.»
Bei der Wahl der Patientinnen und Patienten, die er operiert, sind ihm bei seinen humanitären Einsätzen Akten und Excel-Tabellen weit lieber als ein Gespräch mit den Eltern. «Unsere Möglichkeiten sind limitiert. Ich muss eine Kriegslogik anwenden: Wenn die Chancen, in der gleichen Zeit zwei Kindern zu helfen, grösser sind, als bei einem sehr komplizierten Fall etwas hinzukriegen, entscheide ich mich für Ersteres.» Solche Entscheide treffe man einfacher beim Studium von Unterlagen als beim Blick in die Augen verzweifelter Eltern.
Niza hat Glück. Nach knapp vier Stunden wird ihr runtergekühltes Herz aufgewärmt, beginnt zu schlagen, kräftig und regelmässig wie nie zuvor. René Prêtre und sein siebenköpfiges Team, bestehend aus Anästhesist, Intensivmediziner, Kardiotechniker, drei Pflegenden und einer persönlichen Assistentin, welche die ganze Logistik betreut, essen in einem sterilen Raum mit Neonlicht Zmittag. Ein Club-Sandwich, geliefert vom Hotel nebenan, dazu etwas Wasser, «nicht zu viel», sagt Prêtre. Pinkelpausen wären ungünstig bei der nächsten Operation.
Ein paar Dehnübungen («Wegen des langen Stehens macht mir der Rücken zu schaffen»), zwei Pink-Floyd-Songs («Led Zeppelin machen kribbelig»), dann gehts auch schon weiter. Der Star-Chirurg beschwert sich nicht: In der Schweiz operiert er in Lausanne, Zürich und Genf, und oft muss er wegen Notfällen gar mit dem Helikopter hin- und hergeflogen werden. Der geschiedene Vater zweier Töchter kennt so gut wie kein Privatleben, seinen fünfmonatigen Enkel sieht er meist nur auf Fotos. «Ich weiss nicht, wie lange ich das noch so machen kann», sagt der 62-Jährige. Sein Ziel sei es, in der Schweiz bald etwas kürzerzutreten, mit seiner Stiftung Le Petit Cœur aber weiterhin humanitäre Einsätze in Mosambik, Kambodscha und vielleicht an einem dritten Ort durchzuführen.
«Emotionen sind hinderlich. Ich sehe primär ein Herz. Erst wenn was schiefläuft, das Kind»
René Prêtre
Jetzt ist Somnang Heng an der Reihe. Der Vierjährige kam 2016 wegen Dengue-Fieber ins Spital. Bei einer Untersuchung stellte man einen komplizierten Herzfehler fest. Im «Bloc», dem Trakt mit den Operationssälen, verlegt das kambodschanisch-schweizerische Chirurgenteam die Leitungen seines Pumporgans so um, dass dieses wieder 90 Prozent Leistung erzeugt. Währenddessen herrscht im restlichen Spital der ganz normale Wahnsinn: 1390 Patienten behandle man heute in Siem Reap, sagt Chefarzt Yay Chantana – 1196 seien es in Phnom Penh, ergänzt Betriebsleiter Denis Laurent.
Die beiden sind Beat Richners «Söhne im Geiste» und sorgen mit den anderen Chefärzten und Dr. Peter Studer, Beatocellos Freund und Nachfolger, dafür, dass alles im Sinne des 2018 verstorbenen Gründers weiterläuft. Und das tut es: Im Sommer meisterten die 2500 Angestellten eine Dengue-Epidemie von über 30'000 Fällen, gleichzeitig wurde das neue Gebäude in Phnom Penh eingeweiht, das nebst der Herzabteilung auch eine Intensivstation für Frühchen beherbergt. Die Maternité konnte soeben renoviert werden, eine neue Wäscherei ist in Planung. «Wir lassen Beats Träume Wirklichkeit werden. Das ist anstrengend. Aber auch schön», sagt Denis Laurent. «Dass unser Herzchirurg Ponn Ladin nun sogar jüngere Kollegen ausbildet, hätte ihn wahnsinnig gefreut.»
Beat Richner habe ein einzigartiges Erbe hinterlassen – «es ist eine Ehre, für dieses Hilfswerk arbeiten zu dürfen», sagt René Prêtre andächtig, als er einen Tag später, es ist längst dunkel, seine Runde auf der Herz-Intensivstation dreht. Niza wirkt noch benommen, hat aber zum ersten Mal in ihrem Leben einen gesunden, leicht rosigen Teint. Somnang ist wach – und fragt bereits nach seiner Superman-Puppe. Superkräfte brauche sein Sohn nicht, erklärt sein Vater glücklich: Es reiche, wenn er nun ganz normal zur Schule gehen könne.