Vreni Schneider (58), die erfolgreichste Schweizer Skirennfahrerin aller Zeiten, war 16 Jahre alt als ihre Mutter Sibilla an Krebs starb. Ein Verlust, der ihr Leben und ihre Karriere geprägt hat. In unserer Serie zum Muttertag erzählt sie, woran sie sich erinnert und was sie ihrer Mutter heute gerne sagen würde.
Vreni Schneider gedenkt ihrer Mutter
«Heute würde ich meiner Mutter noch mehr sagen, dass ich sie sehr gern habe. Ich denke, das sagt man einfach zu wenig. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie gewusst hat, wie viel sie mir bedeutet. Sie hat es gespürt. Ich bin oft auf den Friedhof gegangen und habe mit ihr gesprochen. Ich habe ihr Fragen gestellt, sie um Entscheidungen gebeten – ich hielt Zwiesprache mit ihr. Dabei hatte ich immer das Gefühl, dass sie bei mir ist.
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber es dauert sehr lang, diesen unglaublichen Verlust zu verarbeiten. Es ist jetzt 42 Jahre her, seit meine Mutter gestorben ist. Doch die Narben bleiben für immer.
«Ich hatte die schönste Kindheit.»
Vreni Schneider
Meine Mutter hatte zu all ihren vier Kindern eine sehr innige und herzliche Beziehung. Ich war die Jüngste. Das Nesthäkchen. Wir waren das Wichtigste für sie. Sie hat sich um alles gekümmert, alles für uns gemacht. Sie war eine zähe, tüchtige, liebenswerte Frau. Sie war immer am ‹Werchä› und konnte hervorragend Ski fahren, wie mein Vater auch. Ich hatte die schönste Kindheit.
Gings um die Schule, konnte meine Mutter manchmal streng sein. Wenn ich eine Strafaufgabe bekommen habe, was zum Glück nicht oft geschah, hat sie dies gar nicht gern gesehen. Ich musste mich hinsetzen und stundenlang sogenannte ‹Heimatgschichte› aus dem Dialekt ins Hochdeutsche übersetzen. Manchmal hat sie mich dabei unterstützt. Aber nicht oft. Auch wenn ich mal Streit mit jemandem hatte, hat sie mir kaum geholfen. Sie sagte, das müsse ich selber ausbaden. Sie sei ja nicht dabei gewesen. Sie hat mich gelehrt, dass man ehrlich sein und zu seinen Fehlern stehen soll.
«Sie starb an einem Sonntag. Ich kann mich heute noch genau an jede Minute erinnern.»
Vreni Schneider über ihre Mutter
Kurz vor ihrem Tod, ich war damals 16, sah ich das erste Mal das Meer. Es war nach einem FIS-Rennen in Italien. Kaum zu Hause, wollte ich dieses unvergessliche Erlebnis gleich meiner Mutter erzählen. Sie war aber schon schwer krank und lag im Bett. Sie sagte nur: ‹Meitli, bitte erzähle mir später davon. Ich habe nicht die Kraft zuzuhören.› Da realisierte ich, jetzt geht es ihr wirklich nicht mehr gut. Trotzdem habe ich immer noch an ein Wunder geglaubt und gehofft, dass meine Mutter wieder gesund wird.
Sie starb an einem Sonntag. Ich kann mich heute noch genau an jede Minute erinnern. Ich kam zurück von einem Skirennen in Elm, das ich gewonnen hatte. Als ich zur Tür reinkam, klingelte das Telefon, meine Schwester Barbara nahm ab. Meine Mutter lag damals schon einige Wochen im Spital. Als ich den Gesichtsausdruck meiner Schwester sah, wusste ich sofort, was der Grund des Anrufs war.
«Sie wäre so stolz gewesen auf ihre Enkel. Und sie wäre ein wunderbares Grosi geworden.»
Vreni Schneider über ihre Mutter
Ich habe sie in all den Jahren so oft vermisst. Beispielsweise bei den Rennen. Wenn ich oben am Start gestanden bin, habe ich zum Horizont geschaut und an sie gedacht. Man bekommt die Goldmedaille, die Schweizer Nationalhymne wird gespielt, und ich habe mich gefragt, warum darf meine Mutter das nicht erleben? Oder als ich geheiratet habe. Und selbst Mutter geworden bin. Bei der Geburt meines ersten Sohns, Florian, hatte ich eine kleine Krise. Auf der einen Seite war da ein grosses Glücksgefühl, auf der anderen Seite die Ungewissheit, ob ich eine gute Mutter sein werde. Vor allem war da auch die traurige Gewissheit, dass ich meine Mutter nie um Rat werde fragen können. Sie wäre so stolz gewesen auf ihre Enkel. Und sie wäre ein wunderbares Grosi geworden.
Vielleicht war ihr früher Tod auch Ansporn für meine Karriere. Als sie noch wenige Wochen zu leben hatte, sagte sie zu mir, ich solle, wenn ich das wirklich wolle, voll aufs Skifahren setzen. Deshalb habe ich wahrscheinlich noch mehr gekämpft, war für alles dankbar und nahm nichts für selbstverständlich. Und wurde das, was ich wurde.»
Wie sich Komiker Beat Schlatter und SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner an ihre zu früh verstorbenen Mütter erinnern, erfahrt ihr in der aktuellen Schweizer Illustrierten (Nummer 19, 2023). Wenn ihr mehr darüber erfahren wollt, welche schwierigen Gefühle des Verlusts und der Trauer der Muttertag triggern kann, gehts hier zum Thema Muttertagstrauer.