Sie ist fünf Jahre alt, als sie zum ersten Mal mit dem Tod in Berührung kommt. Damals lebt Anna Margareta Neff Seitz (53) mit ihrer Familie auf einem Bauernhof im Appenzell. «Als mein Grossvater starb, war er einige Tage aufgebahrt bei uns in der Stube», sagt Neff zu schweizer-illustrierte.ch. Was heute überhaupt nicht mehr gang und gäbe ist, war damals völlig normal. «Ich erinnere mich, dass wir neben dem toten Grossvater spielten, lachten und herumrannten. So hatten traurige und freudige Momente nebeneinander Platz..»
Schon davor kriegt Neff den Lauf der Natur sehr gut mit. «Auf einem Bauernhof siehst du auch mal, wie ein Kälbchen stirbt.» Angst vor dem Tod oder dem Sterben hatte die Appenzellerin nie. Auch nicht, als sie im Alter von 31 Jahren die Diagnose Lymphdrüsen-Krebs bekommt. Sie hatte damals zwei kleine Söhne - und hat dennoch fünf Jahre nichts gegen die Krankheit unternommen. «Ich habe mich vor allem auf meine Gesundheit und nicht auf die Krankheit fokussiert.» Sie wollte nicht leben um jeden Preis.. «Ich wusste, dass sich mein Mann bestens um unsere Söhne kümmern wird und es ihnen gut geht, auch wenn ich nicht mehr da bin. Was geschmerzt hat, war sehr egoistisch die Vorstellung, nicht erleben zu dürfen, wie meine Kinder heranwachsen und ihnen nicht als Erwachsene begegnen zu können.»
Ein Jahr nach der Diagnose entscheidet sich Neff, ihr Leben beruflich neu auszurichten. Sie beginnt die Ausbildung zur Hebamme. Im letzten Jahr der Ausbildung muss sie sich aufgrund der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes einer Chemotherapie unterziehen und macht dabei nochmals lehrreiche Erfahrungen in Bezug auf das Kontinuum von Gesund- und Kranksein. An ihrer ersten Arbeitsstelle auf der Geburtsstation der Frauenklinik Bern erhält sie die Möglichkeit, zusätzlich als Trauerbegleiterin zu arbeiten. So absolviert sie in Einsiedeln und Griechenland einen zweijährigen Lehrgang als Lebens- und Trauerbegleiterin.
Wieso haben Sie sich entschieden, Trauerbegleiterin zu werden?
Der Tod war schon immer präsent in meinem Leben. Bei der praktischen Abschlussprüfung als Hebamme traf ich auf eine Frau, die in der 21. Schwangerschaftswoche eines ihrer Zwillinge tot zur Welt bringen musste. Später in meinem Beruf begegnete ich immer wieder Eltern, deren Kinder kurz vor, während oder nach der Geburt verstorben sind. Ich merkte, dass mir die Arbeit mit Menschen liegt, dass ich genug im Reinen mit mir und meiner eigenen Geschichte bin, um trauernde Eltern durch ihren unglaublich schmerzhaften Prozess zu begleiten.
Als Hebamme haben Sie viel mit dem schönsten Moment im Leben von Eltern zu tun, als Trauerbegleiterin mit dem wohl schlimmsten. Wie gelingt der Spagat?
Das Gebären und das Sterben sind nahe beieinander – die grossen Übergänge des Lebens. Es geht ums atmen, die Ruhe finden, unruhig werden, loslassen, ankommen, bei sich sein. Dies geschieht in Wellen – ein Kommen und Gehen. Es ist von den Energien, die beim Gebären und Sterben freigesetzt werden, kein grosser Spagat. Ich war beim Tod meiner Eltern ganz nah dabei und beide Male hat mich das Sterben sehr an meine Arbeit als Hebamme erinnert.
Wie halten Sie persönlich das Sterben von Babys und Kindern aus?
Es berührt mich immer wieder von Neuem, Eltern in diesen intensiven und grossen Momenten zu begleiten. Das darf und soll auch so sein. Das ist wichtig für meine Aufgabe als Trauerbegleiterin, berührt zu sein von der Gefühlswelt, dem Schmerz der Eltern, die gerade den wohl schlimmsten Verlust ihres Lebens verkraften müssen. Berührt bin ich auch von den verstorbenen Kindern. Ich staune, wie friedlich sie aussehen. Wenn ich Eltern frage, was sie denken, wie es ihrem Kind jetzt da, wo es ist, geht, dann sagen sie fast immer: 'Es geht meinem Kind gut.' Ohne zu wissen, was nach dem Tod sein wird, bin ich der Überzeugung, dass die Kinder gut aufgehoben sind, da wo sie nach dem Tod sind.
Und dennoch ist es gefühlt so falsch, dass Babys und Kinder sterben.
Das ist so. Das haben wir als Gesellschaft verinnerlicht. Dabei ist der Tod das einzig Sichere, das auf uns Menschen zukommt, wenn wir zur Welt kommen. Wann das sein wird, wissen wir nicht und können wir nicht beeinflussen. Ich für mich habe verinnerlicht, dass Babys und Kinder sterben dürfen. Wir haben die Vorstellung, was ein erfülltes Leben beinhaltet/ist. Das ist jedoch nur eine Vorstellung von uns Menschen. Es kann ja sein, dass ein Kind, das im Mutterleib gelebt hat oder nur kurze Zeit nach der Geburt, bereits ein erfülltes Leben hatte.
Wie sieht eine typische Trauerbegleitung bei Ihnen aus?
Eine typische Trauerbegleitung gibt es nicht. Ich gehe auf jedes Elternpaar und auf jedes Schicksal individuell ein. Mein Ziel ist es, den Eltern Orientierung zu geben, damit sie zu ihren eigenen Ressourcen zurückfinden. Ihnen als Mutter und Vater begegnen stärkt sie als Eltern, denn das werden sie immer bleiben – auch wenn ihr Kind gestorben ist. So wird es möglich, das Erlebte in die eigene Biographie zu integrieren und den Blick mit der Zeit wieder nach vorne zu richten. Ich motiviere sie, die Beziehung zum verstorbenen Kind weiter zu leben. Erinnerungen zu schaffen und diesen Raum zu geben, kann dabei unterstützend wirken. Die Elternliebe ist ja noch da, wenn ein Kind stirbt. Ich bestärke die Familien zum Beispiel, ihr verstorbenes Kind mit nach Hause zu nehmen, um ganz bewusst Abschied zu nehmen und so Erinnerungen zu schaffen. Ich halte es auch für hilfreich, dass sie am Todestag, der häufig auch mit dem Geburtstag übereinstimmt, etwas Spezielles planen, um ihrem Kind zu gedenken. Oft haben Eltern das Gefühl, dass sie das nicht schaffen. Im Nachhinein erzählen die Eltern dann, dass der Jahrestag schön und bestärkend war. Dass es wohltuend gewesen ist, den Tag bewusst zu erleben.
Wann ist Ihr Beruf am schönsten?
Wenn es gelingt, dass Eltern wieder in ihre Kraft finden, aus sich selbst schöpfen und ihre Gefühle ausdrücken können. Dann gehe auch ich gestärkt aus einer Begleitung. Ich höre immer wieder von Eltern, dass sie gespürt haben, dass ich an sie geglaubt habe. Dass es mir gelungen ist, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie den Verlust ihres Kindes überstehen, dass sie weiterleben und sogar vielleicht auch wieder Kinder bekommen können. Ich bin der festen Überzeugung: 'Wir Menschen schaffen das, dafür sind wir da in diesem Leben'. Wenn ich sehe, dass Eltern in Verbindung mit ihrem verstorbenen Kind gestärkt in die Zukunft schauen können, dann freut mich das sehr. Schön finde ich es auch, werdende Mütter durch ihre Schwangerschaft zu begleiten, die zuvor ein Kind verloren haben. Ich habe viele Frauen, die genau das erlebt haben und mit denen ich arbeiten darf.
Anna Margareta Neff Seitz ist Leiterin der Fachstelle kindsverlust.ch und arbeitet auch in eigener Praxis in Bern. Sind Sie selber betroffen? Hier finden Sie kostenlos Hilfe.