Gott weiss, dass ich geliebt habe.
Gott weiss, dass ich verloren habe.
Gott weiss, dass ich es versucht habe.
Diese Zeilen aus einem Lied der US-amerikanischen Sängerin Lana Del Rey sind das Letzte, was Céline Pfister auf ihrem Handy gespeichert hat. Kurz darauf begeht die 13-Jährige zu Hause im aargauischen Spreitenbach Suizid. Der Hass aus ihrem Handy ist in ihr richtiges Leben gekrochen – und hat es beendet.
Das war im Sommer 2017. Heute gehen ihre Eltern Nadya (56) und Candid Pfister (55) durch das Shoppi Tivoli. Ein Ort, den ihr einziges Kind geliebt hat. Hier verbrachte Céline wie viele Jugendliche aus der Region ihre Freizeit. Lachte mit Freundinnen, träumte von ihrer Zukunft – die Schülerin wollte später Jura studieren.
«‹Es braucht nur zwei Klicks und du bist erledigt.› So drohte die Täterin in einem Chat», sagt Nadya Pfister, ganz in Schwarz gekleidet. Wie jeden Tag seit dem 28. August 2017. «Gäbe es eine dunklere Farbe, würde ich sie tragen.» Sie hat ein Foto ihrer Tochter dabei, schwarz-weiss in einem goldenen Rahmen. Und Célines Uhr. Die Mutter zeigt das Ziffernblatt – halb sechs. «Die Uhrzeit, als ich sie zu Hause nach der Arbeit tot aufgefunden habe. Die Uhr steht seither still.»
Céline habe den Eltern nie Kummer bereitet. «Sie war ein liebevolles, offenherziges Kind», sagt Nadya Pfister. «Sie hat alles gut gemacht – sprach drei Sprachen, tanzte Hip-Hop. Sie war talentiert, gross und wunderschön.» Die Mutter ist stolz, wenn sie von ihrer Tochter spricht. Das Loch in ihrem Herzen, das der Suizid hinterlassen hat, klafft.
Verraten und verletzt
Céline Pfister war verliebt in einen Jungen. Doch der hatte zuvor mit einem Mädchen aus dem benachbarten Dietikon ZH eine Affäre. Drei Monate vor Célines Tod begann das 16-jährige Mädchen sie im Internet zu beleidigen und bedrohen. Céline stellte ihre Peinigerin zur Rede, doch die wurde nur wütender.
Der Junge nutzte den Streit aus. Er forderte von Céline, ihm freizügige Fotos zu senden. Was sie auch tat. Der 14-Jährige schickte das Foto der Kontrahentin weiter, nachdem Céline seine sexuellen Avancen abgelehnt hatte. Diese teilte das Bild auf der Social-Media-Plattform Snapchat und machte sich lustig über Céline. Eine Freundin mischte sich ein und brachte die 16-Jährige dazu, das Foto zu löschen. Doch mehr als 500 Menschen hatten das Bild bereits online gesehen. Kurz darauf begegneten sich die Mädchen am letzten Tag der «Badenfahrt» – das Mobbing wechselte vom Netz in die reale Welt. Tags darauf war Céline tot.
Es ist der erste bekannte Fall von Cybermobbing in der Schweiz, der ein so tragisches Ende genommen hat. «Man fragte die Täterin, warum sie das tat. Sie sagte, wenn es anderen schlecht gehe, gehe es ihr gut. Céline war das perfekte Opfer», schildert die Mutter das Unbegreifliche. Das andere Mädchen war bei der Polizei bekannt. Die Staatsanwaltschaft benötigte mehr als zwei Jahre, um den Fall aufzuarbeiten. Die zwei Jugendlichen traf ein mildes Urteil: Sie kamen mit wenigen Tagen gemeinnütziger Arbeit davon.
Für immer Eltern
Nadya und Candid Pfister zeigen ihre Unterarme. Auf seiner Haut prangt der Kopf eines Löwen, auf ihrer der einer Löwin. Mitten durchs Gesicht dringt ein Pfeil. Er steht für den Tod ihrer Tochter, der sie mitten aus dem Leben gerissen hat. «Wir mussten einander versprechen, uns selber nichts anzutun», sagt Candid Pfister. «Dieses Versprechen hat uns vielleicht gerettet.»
Noch heute ist das Kinderzimmer von Céline unberührt, auf Instagram teilen die Eltern Erinnerungen an ihre Tochter. Sie wollen ihr und anderen Betroffenen eine Stimme geben und gründeten den Verein celinesvoice.ch, bei dem auch Freundinnen von Céline beteiligt sind. Sie halten Vorträge an Schulen, um zu zeigen, wohin Cybermobbing führen kann. «Wir sprechen mit den Jugendlichen so offen und direkt wie möglich über Céline. Es ist eine Schocktherapie und unsere Art, Prävention zu leisten», sagt die Mutter.
Eine andere Bühne
Dank des Engagements der Pfisters hat die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter 2020 eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche einen neuen Straftatbestand für Cybermobbing fordert. Nach der grossen Kammer hat auch der Ständerat Ende vergangenen Jahres die Initiative angenommen. «Seit Célines Tod haben wir von zwei weiteren Suiziden in der Schweiz erfahren, die mit Cybermobbing an Jugendlichen in Zusammenhang standen. Das macht uns unfassbar wütend und traurig», sagt der Vater. Vor vier Jahren wurden Nadya und Candid Pfister mit dem «Beobachter Prix Courage» 2020 ausgezeichnet.
Ein neues, vom Theaterkollektiv Stick Around und dem Schauspielhaus Zürich inszeniertes Stück erzählt nun eine Geschichte, die von Célines Schicksal inspiriert ist. Die Vorpremiere hat im Schulhaus des Gymnasiums Rämibühl stattgefunden – auch Célines Eltern und vier ihrer inzwischen erwachsenen Freundinnen waren anwesend. Die Vorstellung bewegte sie. «Es ist nicht nur die Geschichte von Céline, sondern leider auch die vieler anderer Jugendlicher», sagen sie. «Wenn du oder jemand, den du kennst, betroffen ist, sprich darüber. Du bist nicht allein.»
Bye-bye, Bitch! Das Schauspielhaus Zürich und das Kunstkollektiv «Stick Around» bringen mit #byebitch ein von Céline Pfister inspiriertes Theaterstück in Zürcher Klassenzimmer. Das Stück erzählt die Geschichte aus der Perspektive des Vaters (gespielt von Matthias Neukirch) und der besten Freundin (Mira Guggenbühl) des Mobbing-Opfers.
Die 45-minütige Inszenierung wird in den kommenden Wochen an Schulen aufgeführt. Bisher sind 25 Vorführungen durch das Stadtzürcher Schuldepartement und die kantonale Bildungsdirektion finanziert. Weitere öffentliche Aufführungstermine im Schauspielhaus sind ab Januar 2025 geplant. Infos: schauspielhaus.ch