Meine Schwester und ihr Mann streiten ständig. Teilweise demütigt mein Schwager meine Schwester vor mir oder ihren Kindern. Dann zuckt ihr Sohn, mein Göttibub, jeweils regelrecht zusammen. Ich bin kein Vater, frage mich aber dennoch: Schadet es den Kindern, wenn Eltern ihre Konflikte vor ihnen austragen? – Marc
Lieber Marc
Es ist für Drittpersonen nie schön, wenn ein Paar seine Konflikte gegen aussen trägt. Besonders unangenehm ist das für Kinder. Ich jedenfalls fand es als Mädchen schrecklich, wenn ich Zeugin wurde, wie mein Götti und seine Frau sich zankten. Es waren zwar stets harmlose Diskussionen, sie haben «g'chiflet», wie man in Mundart so schön sagt, trotzdem hätte ich mich in solchen Situationen am liebsten in Luft aufgelöst. Denn streitende Eltern war ich nicht gewohnt, entsprechend konnte ich Streit nicht einordnen.
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Heute lache ich darüber. Vor allem, weil mein Mann und ich auch nicht gerade auf den Mund sitzen, wenn es etwas auszutragen gibt. Doch gleichzeitig leben wir auch eine Versöhnkultur. Das heisst: Wir umarmen und entschuldigen uns.
Eine Auseinandersetzung mitzubekommen ist für Kinder nicht per se schädlich, sagt Familiencoach Susanne Baldini. «Streiten ist erlaubt. Kinder dürfen ruhig merken, dass es verschiedene Meinungen gibt, gerade auch in Erziehungsfragen. Sie lernen dadurch, mit Konflikten umzugehen und sich im besten Fall auch wieder zu versöhnen.»
«Wichtig ist, dass die Kinder die Versöhnung mitkriegen.»
Erziehungsberaterin Susanne Baldini
Entscheidend sei aber, Kinder zu beruhigen, wenn sie auf einen Streit ängstlich reagieren. «Eltern sollten ihren Kindern erklären, dass Mami und Papi sich gerade uneins sind, die Kinder aber keine Schuld trifft», so die Fachfrau. Denn sonst bestehe die Gefahr, dass die Kinder die Schuld für den Konflikt bei sich suchen.
Ebenfalls wichtig sei, dass der Nachwuchs die Versöhnung mitkriege. «Die Eltern sollen ihren Kindern vorleben, dass man sich wieder vertragen kann nach einem Streit. Und dies auch zeigen. Etwa durch einen Handschlag, eine Berührung oder einer Umarmung». Also nicht erst spät abends, wenn die Kinder längst schlafen. Das könnte sie verwirren. Baldini: «Sie wissen dann nicht, warum die Welt am nächsten Tag plötzlich wieder in Ordnung ist.»
Diese These stützt auch eine Studie von drei Psychologinnen, welche 2018 im Journal «Emotion» erschien. Die Expertinnen halten den allgegenwärtigen Satz «Nicht vor den Kindern!» für überholt.
Stattdessen plädieren sie für emotionale Transparenz. «Kinder spüren bereits, wenn sich der Streit unterschwellig aufbaut. Lassen Eltern ihre Kinder die Austragung und Lösung ihres Konflikts nicht miterleben, kann das bedeuten, dass sie weder den Streit richtig deuten, noch lernen, damit umzugehen.» Im schlimmsten Fall glaube der Nachwuchs, Grund für den Streit zu sein oder dass die Stabilität der Familie bedroht sei.
Genau so erging es einer meiner Freundinnen. Ihre Eltern hatten ständig Streit, doch sie haben ihre Konflikte nie vor den Kindern ausgetragen. Sie zofften sich aber regelmässig im Elternzimmer. Unglücklicherweise bekamen die Kinder, deren Zimmer an das Elternzimmer angrenzte, jeden Streit mit, jedoch ohne Erklärung oder Begleitung dazu. Meine Freundin bekam teilweise Panik und hatte ehrlich das Gefühl, für die Konflikte verantwortlich zu sein.
Lieber Marc, hast du mal mit deiner Schwester über deine Beobachtungen gesprochen? Ist ihr bewusst, dass ihr Sohn leidet und sicher auch Angst hat, seine Eltern zu verlieren? Als Bruder darfst du solche Themen ansprechen, finde ich. Solange du dich nicht einmischst und auch akzeptierst, wenn das Paar von dir keine Hilfe annehmen möchte. Vielleicht kannst du ja auch mal deinen Göttibub beruhigen oder mit ihm unter vier Augen darüber sprechen.
Fakt ist aber: Die Kindererziehung führt gerne zu Konflikten. Je unterschiedlicher die vorhandenen Wertvorstellungen und Erziehungsstile sind, desto eher kommt es zu Reibungen. Das muss dich nicht beunruhigen. Das ist normal. Wichtig finde ich aber, dass Eltern die Diskussionen mit Anstand und Respekt führen und nicht die Würde der Partnerin oder des Partners verletzen. Verbale Angriffe, die unter die Gürtellinie zielen, sind genauso tabu, wie Gewalt.
Nur fairer Streit ist guter Streit!
Herzlich, Romina
Unsere Expertin für Familienfragen
Nie waren Eltern so gut informiert wie heute. Und nie war es schwieriger, im Dschungel aus Ratgebern und Internetforen den besten Weg für den eigenen Nachwuchs zu finden. Unsere Familien-Expertin Romina Brunner hilft, Ordnung zu schaffen. Regelmässig berät die zweifache Mutter und Journalistin die SI-Family-Community zu Themen und Fragen aus dem Familienalltag.
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