Sagen Sie mal, Frank A. Meyer, was halten Sie vom Beschluss, dass das Kinderspital Zürich keine religiös motivierten Beschneidungen bei jüdischen und muslimischen Buben mehr durchführt?
Ich habe Verständnis dafür.
Ich meinerseits bin sehr erstaunt über den Beschluss.
Dann sind Sie, lieber Marc Walder, erstaunt darüber, dass sich Ärzte Gedanken machen über eine religiös begründete Körperverletzung an Kindern. Sachlich betrachtet handelt es sich um nichts anderes.
Nein, ich bin erstaunt darüber, dass diese Mediziner sich in einen jahrtausendealten, tief verankerten religiösen Brauch einmischen.
Erstens ist ein religiöses Ritual oder ein religiöser Brauch, wie Sie sagen, nicht die Angelegenheit von Ärzten – und berechtigt diese auch nicht zu einer Operation. Zweitens geht es um das Wohl der Kinder, die durch ihre Eltern diesem Brauchtum unterworfen werden, ohne dazu Ja oder Nein sagen zu dürfen. Den Entscheid des Kinderspitals erachte ich als ein sinnvolles Innehalten, das uns endlich eine Debatte über diesen Archaismus ermöglicht.
Auch Deutschland diskutiert dieses Thema intensiv. Das Kölner Landgericht hat die Debatte mit einem Urteil gegen die Beschneidung von Knaben ausgelöst. Aber darf ein Gericht sich anmassen, über religiöse Rituale zu richten?
Das Recht steht auf jeden Fall über der Religion. Körperverletzung ist ein Delikt. Das Wohl eines Kindes ist schutzwürdig. Die Justiz hat geradezu die Pflicht, hier einzugreifen. Die Frage stellt sich aber: Brauchen wir ein Gesetz, das die religiöse Beschneidung ausdrücklich zulässt? In Deutschland will die Regierung noch in diesem Jahr ein solches Gesetz vorlegen.
Sind Sie für oder gegen die Beschneidung?
Ich bin unentschlossen.
Warum?
Längst findet diese Debatte ja auch unter Juden und Muslimen statt. Immer mehr Gläubige möchten den Akt, der bei den Juden als Zeichen für Gottes Bund mit dem Volk Israel gilt, nicht mehr oder nur noch in symbolischer Form vollzogen sehen. Nach Jahrtausenden der Religionsgeschichte darf man sich in unserer modernen Zivilisation wohl Gedanken über eine religiöse Überlieferung machen.
Zurück zu meiner Frage: Sind Sie nun dafür oder dagegen?
Es gibt sowohl ein Dafür wie ein Dawider. Mir scheint die Beschneidung im Säuglingsalter unproblematischer als die Beschneidung im Kindesalter, wenn der Bub den körperlichen wie auch den seelischen Schmerz voll mitbekommt, auch seine eigene Wehrlosigkeit. Das ist für ein Kind mit Sicherheit eine traumatische Situation.
Das ist alles nachvollziehbar, lieber Frank A. Meyer. Aber ich stimme André Bollag, dem Co-Präsidenten der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich bei, wenn er sagt: «Dies ist ein schwerwiegender Eingriff in die Glaubensfreiheit.»
Ich schätze André Bollag. Und er weiss, wie sehr mir die jüdische Kultur am Herzen liegt. Aber ich möchte ihn darauf aufmerksam machen, dass zur Glaubensfreiheit auch der freie Entscheid eines jungen Mannes für oder gegen die Beschneidung gehören müsste.
Bollag sagt, man könne einer Religion ein derart wichtiges Ritual «doch nicht einfach wegnehmen».
Vorerst nimmt man niemandem etwas weg. Sondern man setzt sich mit dem Konflikt zwischen Knabenbeschneidung und Körperverletzung auseinander. Religionskritik ist nicht nur erlaubt, manchmal ist sie sogar nötig. Religionen wandeln sich. Das beweist nicht zuletzt die Geschichte: Jüdische Schriftsteller, Intellektuelle und Politiker haben grosse Verdienste im Kampf um die demokratische und rechtsstaatliche Zivilisation.
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