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Schweizer Forscher-Team hilft ISS-Astronauten

Hergiswil, we have a problem

Das ist ziemlich abgespaced. Die Astronauten der Raumstation ISS erhalten bei ihren Experimenten Live-Unterstützung aus der Zentralschweiz. Die jungen Forscher von Biotesc haben einen direkten Draht ins All.

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Kimiya Yui schwebt los. Schwerelos. In Kürze dockt ein Sojus-Raumschiff an mit drei Astronauten. Und Material für Experimente. Eines davon, «Endothelial Cells», wird Yui durchführen. Kimiya Yui, 45, Japaner, Astronaut, ist seit dem 22. Juli an Bord der Internationalen Raumstation ISS. Und muss sich jetzt beeilen - was in der Schwerelosigkeit unsäglich langsam aussieht. Arme und Beine angewinkelt wie ein Taucher, driftet Yui im Zeitlupentempo in eine Ecke der ISS, wo er eine Videokamera installiert, die sein Experiment filmen soll.

Auf Planet Erde löst Yuis Handeln Unruhe aus. Wissenschaftler in einem Kontrollraum starren auf Bildschirme, die Yui live zeigen. «Die Kamera erfasst nicht das ganze Experiment, Yui soll sie mehr nach rechts drehen.» Sagt einer. Auf Schweizerdeutsch. Seine Kollegin funkt die Anweisung auf Englisch weiter - Sekunden später korrigiert Yui seinen Fehler. Im Kontrollraum wird genickt. Jemand sagt «guet gmacht». Auf Bärndeutsch.

An der Seestrasse 41 in Hergiswil im Kanton Nidwalden am Vierwaldstättersee steht eine Villa. Ein etwas in die Jahre gekommenes, aber stattliches Haus. Drei Stockwerke, Balkon, Dachlukarnen, lindgrüne Fassade, Gartenmäuerchen. Niemand würde vermuten, dass die Villa einen direkten Draht ins Weltall hat: von der Seestrasse in Richtung Milchstrasse, von Hergiswil 416 Kilometer hinauf zur ISS. In der alten Villa ist Biotesc einquartiert, ein User Support and Operation Center. Das zehnköpfige Schweizer Forscherteam, die meisten Weltraumbiologen, sind der Hochschule Luzern angegliedert, dem Kompetenzzentrum für biomedizinische Weltraumforschung und Technik. Biotesc arbeitet im Auftrag der Europäischen Weltraumorganisation ESA, betreut Wissenschaftler aus aller Welt, die Bio-Experimente in der ISS machen, und unterstützt Astronauten bei der Durchführung dieser Tests.

In Hergiswil hat die Globalisierung bereits den Kosmos erreicht.

Die Grossmutter von Fabienne Wyss glaubte früher, ihre Enkelin fliege bald zum Mond. «Es ist aber auch schwierig, zu erklären, was wir hier genau machen», sagt diese. Fabienne Wyss ist 30 Jahre alt, Bernerin, Biologin und stellvertretende Leiterin von Biotesc. In ihrem rechten Nasenflügel steckt ein winziges Piercing. In Sternform. Natürlich.

Ein Tag im Spätsommer. Fabienne Wyss und ihre Kollegin Jeannine Winkler stehen im Dachzimmer der Hergiswiler Villa. Braune Sichtbalken, weisse Wände, Spannteppich, durch die Lukarnen sieht man die Ausläufer des Pilatus, jemand hat ein Kafitassli stehen lassen. Nicht ungemütlich, fast heimelig - hinge da nicht respekteinflössend das Schild «Control room» an der Tür. Hier prallen Welten aufeinander, «Raumschiff Enterprise» trifft «Landfrauenküche», eine komisch kosmische Fusion. Auf Monitoren glimmen komplizierte farbige Diagramme, aus Lautsprechern quäken englische und russische Stimmen, und auf dem grössten Bildschirm sieht man Astronauten der ISS am Arbeiten. Live.

Die beiden Frauen hantieren an einem Würfel in Kühlboxgrösse. Das ist Kubik, ein portabler Brutschrank, in dem Experimente durchgeführt werden. An Bord der ISS steht ein identisches Teil; der Kubik hier auf Erden ist zum Trainieren und Durchspielen künftiger Weltraumexperimente.

Der Auftrag: Italienische Wissenschaftler schicken demnächst mit einer russischen Sojus-Rakete das Bio-Experiment «Endothelial Cells» (der Effekt von Schwerelosigkeit und kosmischer Strahlung auf Zellen) zur ISS hoch, das dort von einem Astronauten (es wird der Japaner Yui sein) durchgeführt wird. Biotesc begleitet das Vorhaben, «wir machen es astronautentauglich», sagt Fabienne Wyss. Biotesc schreibt für die Astronauten Schritt-für-Schritt-Anleitungen, Kubik-Beipackzettel quasi. «Prozeduren heisst das in der Raumfahrtsprache», präzisiert Wyss. Präzision ist die Lebensversicherung in ihrem Geschäft.

Insgesamt sieben Support Centers in Europa arbeiten für die ESA (jedes auf einem anderen Fachgebiet), die meisten Bio-Experimente werden vom Team Hergiswil betreut.

1977 wird an der ETH Zürich die Space Biology Group gegründet. 23 Jahre später kann die Gruppe das Support Center Biotesc eröffnen, 2013 erfolgt der Umzug nach Hergiswil sowie der Ausbau zum Kompetenzzentrum. Auch für Hergiswil selber damals eine Sternstunde: «Die Nachricht schlug ein wie ein Komet», erinnert sich Gemeindepräsident Remo Zberg. «Normalerweise kann ein Gemeindepräsident ein Schulhaus einweihen oder den Umbau einer Bankfiliale loben. Ein Kompetenzzentrum für Weltraumforschung anzusiedeln, ist da die Ausnahme.» Gemäss Zberg stehen die Sterne günstig für sein Dorf: «Ein direkter Draht zum Universum kann auf keinen Fall schaden.»

Seit 2010 ist Fabienne Wyss bei Biotesc. Als Teammitglied muss sie nicht nur Prozeduren für Astronauten schreiben, sondern die Raumfahrer bei Problemen vom Kontrollraum Hergiswil aus via Live-Video unterstützen. Die Redeprotokolle sind sehr streng: Hergiswil darf nicht direkt mit den Astronauten sprechen, sondern muss dies via ESA-Kontrollzentrum-Operator «Eurocom» in Deutschland tun, dieser teilt der ISS-Crew dann die Nachricht aus der Schweiz mit - und umgekehrt.

Das Tagesprogramm der Astronauten muss minutiös eingehalten werden. Fabienne Wyss scrollt auf dem PC durch den heutigen Stundenplan der ISS-Crew. Farbige Balken signalisieren, welcher Astronaut wann was tut. Während FE-3 (Flight Engineer 3) Scott Kelly sich gerade mit einem Experiment beschäftigt, befinden sich Kosmonaut FE-2 Mikhail Kornienko in der «Postsleep»-Phase, das ist der raumfahrttechnisch aufregend klingende Begriff für Morgentoilette und Zmorge.

In der Villa in Hergiswil wird auch Grundlagenforschung betrieben. Das Team des Kompetenzzentrums für biomedizinische Weltraumforschung und Technik untersucht vor allem, wie sich die Langzeit-Schwerelosigkeit auf Zellen, Muskeln und Knochen auswirkt. Leiter Marcel Egli betont, es gehe dabei nicht nur um die Gesundheit der Astronauten. «Von unserer Forschung profitieren auch bettlägerige Patienten, alte Menschen oder Spitzensportler.»

Die für solche Forschung nötigen Labore sind überall in der Hergiswiler Villa untergebracht. An teils ungewöhnlichen Orten. Wo früher der Boilerraum war, stehen heute Mikroskope, der Chemieschrank thront im Luftschutzraum, und im Keller, neben dem Öltankräumchen, werden bei 17 Grad und bläulichem LED-Licht Nordmeer-Algen gezüchtet. Diese produzieren Bio-Treibstoff, andere Algenarten eignen sich als Nahrungsmittel. Als «Fuel and Food» (Kraftstoff und Nahrung) bezeichnet Egli darum dieses Projekt: «Im Hinblick auf künftige Mond- oder Mars-Missionen, wo sich die Crew autonom versorgen soll, ist diese Art Forschung enorm wichtig.»

Die Weltraumfahrt ist in der Hergiswiler Villa allgegenwärtig: Über dem Sitzungstisch hängt ein Spaceshuttle aus Lego, in den Büros stehen Playmobil-Mondautos und Plüschtier-Astronauten (die, wenn man sie drückt, den Raketenstart-Countdown herunterzählen). Wie in allen Firmenküchen ist der Ämtliplan mit Magneten am Kühlschrank befestigt, nur haben diese hier halt die Form von Ariane-Raketen. Und beim Hinweiszettel «Bitte nach Gebrauch die Kapsel auswerfen» denkt man hier unweigerlich an das Handling mit Raumkapseln - obwohl natürlich die Kaffeemaschine gemeint ist.

Zurück im Dachzimmer. Fabienne Wyss und Jeannine Winkler sind zufrieden. Kubik ist bereit, flug- und astronautentauglich. «Endothelial Cells» kann starten - nach sechs Jahren Vorbereitungszeit. Das Experiment wird mit der nächsten Sojus-Rakete vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur hochgeschickt, das Zellmaterial in 24 kleinen Containern zur ISS transportiert. Jeder Container, so Wyss, habe die Grösse einer Berner-Sennenhunde-Pfote. Ein für eine Forscherin geradezu galaktisch kreativer Vergleich.

Ein paar Wochen später. Russland, Sternenstadt Baikonur, kasachische Steppe. Sperrzone! Die Sojus-Rakete ist bereit zum Start. Wyss und Winkler sind hierhergereist, um beim Bereitmachen der 24 Kubik-Container zu helfen. Als «total surreal» beschreibt Fabienne Wyss die Szenerie. 30 Grad Hitze, viel Militär, und das Essen besteht aus Unmengen von Fleisch. «Ein Vegetarier ginge hier drauf!»

Dann der Start: Rührend sei es, so Wyss, zu sehen, wie sich die Astronauten von ihren Familien verabschieden. Ein kasachisches Müeti in Tracht grüsst seinen Sohn, die kleinen Kinder des dänischen Astronauten winken ihrem Papi. «Der Start haut einen fast um», erzählt Jeannine Winkler, «wahnsinnig laut, alles bebt.» Während die Rakete abhebt, bereitet sich die ISS-Crew auf das Andocken der Kollegen und auf neue Experimente vor. Auch Astronaut Yui macht sich bereit, wärmt Kubik vor, justiert eine Videokamera - aber eben nicht ganz korrekt. Er wird korrigiert. Vom Hergiswiler Dachzimmer aus.

Die zehn Tage dauernde Mission Sojus TMA-18M ist erfolgreich. Das Biotesc-Experiment hat perfekt geklappt. Die Hergiswiler Forscherinnen sind wieder daheim. Und wann, Frau Wyss, fliegen Sie als Astronautin zur ISS? «Ich, nie. Niemals! Dort oben ist es eng, dunkel, hektisch und strapaziös. Das wäre nichts für mich.» Keine Lust also auf Raumflug? «Ich fliege Gleitschirm, das reicht.» Und wenn die ESA Sie fragt? «Also wenn die Mission kurz wär...»

Fabienne Wyss, stellvertretende Leiterin Biotesc, sitzt im Büro. An der Wand hängt der «ISS Flight Plan» bis 2016, im Dezember coacht sie ein neues Experiment (diesmal unterstützt sie einen britischen Raumfahrer), und Astronaut Yui wird zwei Tage vor Weihnachten zur Erde zurückkehren. Manchmal, wenn Fabienne Wyss intensiv an etwas herumstudiert, ihre Gedanken in der Galaxis kreisen, malt sie mit Filzstift kleine Punkte auf ihren Fingernagel. So wie jetzt eben. Viele winzige Pünktchen. Das schaut aus wie ein Sternbild.

Von Marcel Huwyler am 13. Dezember 2015 - 08:11 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 15:35 Uhr