Kreidebleich steht Martina Zürcher, 37, vor ihrem Bus. Mitten auf der Autobahn. Hier, unweit der deutschen Stadt Aachen, ist die A4 abgesperrt. Trümmer überall. Viele stammen von Foxy, so nennen Martina und ihr Ehemann Dylan Wickrama, 47, ihren VW T5, ein rollendes Minihaus. Der Bus ist ein Wrack. Aufgerissen, eingedrückt, zerstückelt. Totalschaden nach Frontalkollision mit einem Geisterfahrer. Und sie?
Martina schaut an sich hinunter. Ein paar Kratzer, das Bein tut ihr weh. Sie blickt zu Dylan. Blut auf seinen Jeans. Es stammt nicht von ihm, sondern von einem Schwerverletzten, dem er Erste Hilfe leistet. Vergeblich, der Mann stirbt am Unfallort. Da fährt es Martina eiskalt ein: «Wir könnten tot sein.»
Weniger Hab, mehr Gut
Ein knappes Jahr vor dem Unfall haben Martina und Dylan es gewagt, ihren Traum vom Leben auf Rädern in Angriff zu nehmen. Weniger Hab, mehr Gut. Aus 70 Quadratmetern mach 4. Aus 36 Hemden 6. Minimalismus nennt sich dieser westliche Trend, dem Überfluss der Konsumgesellschaft zu entsagen, um dem Druck des Kapitalismus zu entkommen.
Während die Instragram-Community das moderne Nomadentum unter dem Hashtag Vanlife romantisiert, gingen Martina und Dylan die Sache realistisch an. «Wir wussten, dass wir zwischendurch auf weniger lauschigen Autobahnraststätten übernachten würden», sagt Dylan. «Dafür können wir jetzt nie wieder etwas zu Hause vergessen. Und die Welt ist unser Wohnzimmer», fügt Martina an. Die neue Lebensqualität dank dem reduzierten, mobilen Alltag wiege Komfort- und Platzmangel auf, meint die Journalistin. «Ich arbeite immer am Laptop und tue das lieber mit Aussicht auf die Berge als aufs nächste Burnout.»
«Wann geht ihr denn nun auf Reisen?» Bevor es losging, stellte fast jeder diese Frage. Nicht nur Fremde, auch Familie und Freunde. Die engsten Menschen, die eigentlich wissen sollten, dass es keine Reise ist. Weder Ferien noch Urlaub. Sondern der Beginn eines neuen Lebens. «Wir zwei sind uns genug. Wir können uns gut vorstellen, so alt zu werden.»
Freiluftbüro mit Blick über das Haslital
Beim Besuch steht das mobile Zuhause auf einem Parkplatz nahe der Grimsel-Passhöhe. Auf Schweizer Pässen ist das freie Campieren erlaubt, sonst vielerorts auf kommunaler Ebene verboten.
Martina hat die Flügeltür am Heck des Vans geöffnet. Der Duft von frischem Chai-Tee zieht mit ein paar Nebelschwaden über den menschenleeren Parkplatz. Kardamom, Zimt, Nägeli und Ingwer. Dazu gibts Spiegeleier und frisches Brot aus dem Van-Backofen. Steht das Frühstück einmal auf dem Campingtischchen, wirds binnen 30 Sekunden kalt. «Die Kälte ist auch so etwas, das man auf Instagram nicht sieht», sagt Martina. Sie verlegt die Teller schnell wieder ins beheizte Bus-Innere.
Später, als sich die wärmende Sonne doch noch blicken lässt, richtet Martina neben einer Weide mit Blick über das Haslital ihr Freiluftbüro ein. Die Kühe beäugen den mobilen Drucker skeptisch, der beim Aufstarten piepst und rattert. Dann ist Ruhe. Die Tiere widmen sich erneut dem Wiederkäuen, Martina beginnt, ihre Mails zu bearbeiten.
Foxy der Zweite
Seit einem halben Jahr sind Dylan und Martina wieder auf Rädern unterwegs. Foxy mussten sie auf dem Schrottplatz zurücklassen, aber nur fünf Tage nach dem Unfall haben sie einen neuen Bus gefunden. Wieder einen T5, diesmal mit Dachaufbau, sodass sogar Martina mit ihren 181 Zentimetern Körpergrösse aufrecht darin stehen kann. Foxy der Zweite.
«Als wir den Bus das erste Mal sahen, war er nichts weiter als ein Lieferwagen. Eine dunkle Metallkiste ohne Fenster, dafür mit 260 000 Kilometern auf dem Buckel.» Dylan, gelernter Automechaniker, setzt kurzerhand und mutig die Stichsäge an, fräst eine Fensterluke hier, einen Zwischenraum dort. Baut Holzschränke ein, deren Türen sich zu Tischen aufstellen lassen. Ein Bettsofa, das unter der Matratze 60 Liter Stauraum fasst. Ein mobiles WC mit Chemiespülung passt in die Schublade unter dem Kühlschrank. Die Küche hat einen Gasherd. Die Innenverschalung der Tür wurde zum Gestell umfunktioniert, das von Aromat bis Erste-Hilfe-Kasten alles fasst. Und einen Durchlauferhitzer hat der Düsentrieb ebenfalls reingebastelt: Warmwasser in der Aussendusche!
Tägliches Duschen bei jedem Wetter
Die Körperhygiene kommt nicht etwa zu kurz. Satte drei Minuten schrubbt Dylan an diesem Morgen seine Zähne, während Martina sich im Seitenspiegel Wimperntusche aufträgt. Tägliches Duschen mit ökologisch abbaubarem Shampoo hinter dem Bus gehört bei fast jedem Wetter dazu.
Nur im Winter erlauben sie es sich manchmal, in einem Sportzentrum einen Eintritt zu lösen, um der Kälte zu entkommen. Ein grosser Spiegel fehlt noch. Den hat Dylan Martina versprochen. «Bis dahin muss er mir einfach täglich versichern, dass ich schön aussehe», lacht Martina.
«Mein McGyver»
Zwei Monate brauchte Dylan, um im Vorgarten von Martinas Elternhaus in Aarberg BE aus der «Kiste», wie sein Schwiegervater sagt, ein liebevolles Tiny House zu gestalten. «Mein McGyver», lobt Martina ihren Mann und umarmt ihn mit ihren zwei linken Händen. «Dylan hält für alles eine kreative Lösung bereit, ich besorge die Probleme dazu.»
Kürzlich füllte sie aus Versehen Petrol statt Diesel in den Tank, während Dylan an einer Raststätte die Toilette aufsuchte. Foxy der Zweite brauchte daraufhin eine mehrstündige Notfallbehandlung. Am Folgetag teilte Dylan das Drama auf Facebook. Das Selfie dazu zeigt ihn mit gequältem Lächeln, während Martina in die Kamera strahlt, als wäre nichts gewesen.
«Ich sah ihn und wusste: Er ist es»
Martina lacht, selbst wenn sie es nicht tut. Ihre blaugrünen Augen strahlen in die Welt hinaus, als gäbe es nichts Böses. Es ist dieser Optimismus, in den sich Dylan vor sechs Jahren verliebt hat. Irgendwo in Indien war das, sie war als Touristin unterwegs, er als Weltreisender auf seinem Motorrad. Und beide erzählen, wenn sie sich an diese erste Begegnung erinnern, eine völlig andere Geschichte.
Für Martina war es Liebe auf den ersten Blick. «Ich sah ihn und wusste: Er ist es», sinniert sie und nippt an ihrer weissen Tasse mit den roten Herzchen drauf. «Ich habe das überhaupt nicht so gespürt», sagt Dylan. Im Gegenteil: Als er diese riesige Frau sah, die ihn um fast einen Kopf überragt, wusste er: «Das kann nichts werden.» Nach ein paar Tagen voller guter Gespräche trennten sich ihre Wege. Martina flog in die Mongolei, wo sie vor 14 Jahren ein Kinderhilfswerk aufgebaut hat. Dylan fuhr weiter auf seinem Motorrad.
«Mein einziger Plan: einmal um die Welt»
Dreieinhalb Jahre war er allein unterwegs. Legte 230'000 Kilometer auf fünf Kontinenten zurück, kam in 80 Ländern vorbei. «Mein einziger Plan: einmal um die Welt. Die Route: der Nase nach.» So kam es, dass er in Uganda nach Norden abdrehte und sich plötzlich im Südsudan wiederfand, einer der gefährlichsten Krisenregionen der Welt. Noch gewagter agierte er, als in Panama die Strasse plötzlich endete und er auf die Idee kam, sich ein Floss zu bauen, um die 700 Kilometer nach Kolumbien segelnd zurückzulegen.
Auf die Frage, woher seine Abenteuerlust komme, antwortet Dylan: «Ich bin in Sri Lanka am Meer aufgewachsen und habe mich schon als Bub immer gefragt, wie es wohl hinter dem Horizont weitergeht.» Wer nachhakt, erfährt, dass neben seiner natürlichen Neugierde auch weniger malerische Umstände dazu geführt haben, dass er in die Welt hinauszog. Als Fünfjähriger musste Dylan zusehen, wie sein Vater von Einbrechern ermordet wurde. «Sein Entdeckergeist kann auch als Flucht vor einem harten Alltag und der Armut seiner Kindheit verstanden werden», sagt Martina.
«Am Ende der Strasse»
Die Geschichte seiner unkonventionellen Weltreise ist mittlerweile die wichtigste Einnahmequelle für das Paar. Martina und Dylan haben sie mit geübter Feder zu Papier gebracht und unter dem Titel «Am Ende der Strasse» im Eigenverlag als Buch gedruckt.
Das Abenteuer lässt sich gut vermarkten, Dylan hat tausendundeine Anekdote auf Lager, die er an abendfüllenden Vorträgen auf der ganzen Welt zum Besten gibt. Etwa die von den Delfinen, die ihn gerettet haben, als er mit seiner Flosskonstruktion nach einem Sturm orientierungslos im Pazifik trieb. «Ich bin dem Tod einige Male von der Schippe gesprungen. Aber das war der Moment, in dem ich wieder angefangen habe, an Gott zu glauben.»
Martina tut das immer noch nicht. Was sie aber weiss, ist, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat, als sie ihr altes Leben für ein Landstreicherdasein aufgegeben hat. Das wurde ihr am Abend des verheerenden Unfalls in Deutschland klar. Sie stellt ihre Tasse ab, lehnt sich an Dylans Schulter und atmet die kühle, neblige Bergluft ein. «Wären wir von der Welt gegangen, dann im Wissen, dass wir unser Leben gelebt haben, wie wir es lieben.»
All ihre Abenteuer halten Martina und Dylan in ihrem Blog fest.