Ich blättere die Seiten meines Kalenders um: Ist es wirklich möglich, dass dieses Jahr schon wieder zu Ende ist? Hat es nicht eben erst begonnen? Sass ich nicht gestern noch in einer Flughafenbar, wartete auf meinen verspäteten Flug nach Zürich und schaute fassungslos der Amtsantrittsfeier von Donald Trump zu?
Die zufällige Gruppe von Fremden aus sechs Ländern und drei Kontinenten war sich an diesem Abend einig: «Das kann nicht anhalten», sagten wir. «Das ist absurd.» Doch die Definition dessen, was absurd ist, hat sich unwiderruflich verschoben. Vielleicht ist das die Bilanz: 2017 war das Jahr, in dem wir unsere Massstäbe verloren haben. Unser Gefühl für das, was menschenmöglich ist. Das Jahr, in dem sich unsere Leitplanken verschoben, unsere Gewissheiten aufgelöst haben.
«So funktioniert Gehirnwäsche»
So funktioniert Gehirnwäsche, hat mir einmal ein Psychologe erklärt. Wenn einem jeden Tag mit Überzeugung gesagt wird, der Himmel sei grün und die Wiese blau, dann glaubt man das irgendwann. Tag für Tag werden wir mit neuen Schreckensmeldungen bombardiert, die uns vergessen lassen, was uns gestern noch empört hat. Es ist nicht einfach, sich Tag für Tag gegen diese Informations- oder eher Fehlinformationslawine zu stemmen.
Meine Freundinnen und Freunde, meine Nachbarn, der Zeitungsverkäufer an der Strassenecke, die Kellnerin im Teahouse – sie alle stehen unter dieser ständigen Anspannung. Und man merkt es ihnen an. Sie alle sind zermürbt. Es liegt ein Schatten auf allem.
«Ich habe es getan!»
Und doch war in diesem Schatten, unter diesem Druck, auch viel Schönes möglich. Vielleicht gerade deswegen. Ich spüre einen grossen Zusammenhalt, eine Solidarität. Man hilft sich ungefragt aus. Denn das ist wohl das Mindeste in diesen unsicheren Zeiten: dass wir zusammenhalten.
Es ist das dritte Jahr in meiner neuen Heimat. Und noch immer passiert es, dass ich den Atem anhalte, wenn ich die Canyon Road in Santa Fe hinaufgehe. Plötzlich überkommt es mich: Ich lebe jetzt hier! Ich habe es wirklich getan! Dann muss ich stehen bleiben.
«Ich bin eine brauchbare Handwerkerin»
Ich schaue mich um, als sähe ich alles zum ersten Mal. Die geduckten Lehmhäuser, die bunten Lichter, die kitschigen Auslagen. Der endlos blaue Himmel über allem. Dieses durchsichtige Licht. Manchmal kommt es mir immer noch unwirklich vor. Dass ich meine Träume wirklich umgesetzt habe. Und so ist 2017 bei aller politischen Unsicherheit privat ein Jahr der Festigung gewesen.
Zum vierten Mal habe ich meinem Freund Victor Zaballa geholfen, einen über vier Meter hohen Altar zu installieren. Unter seiner Anleitung habe ich mich zu einer recht brauchbaren Handwerkerin entwickelt – auch etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte!
«Die Schweiz richtig schätzen gelernt»
2017 war das Jahr, in dem mir niemand mehr erklären musste, wie man die Löcher für die Ankerschrauben bohrt oder die Kreissäge bedient. Es war das Jahr, in dem uns die Techniker in der Galerie mit Jubel begrüssten, meine Freundin Doris und mich: «Die Schweizerinnen sind hier! Jetzt kann nichts mehr schiefgehen!»
Es war ein Jahr, in dem meine Beziehung zur Schweiz eine neue Dimension gewonnen hat. Erst aus der Distanz habe ich die Schweiz so richtig schätzen gelernt. All die Dinge, die ich für selbstverständlich genommen hatte: öffentliche Schulen, obligatorische Krankenversicherung, Schulzahnkliniken, funktionierende öffentliche Verkehrsmittel, das SRF...
«Eine traurige, aber wichtige Routine»
Aber ich bin auch noch nicht lange genug weg, um meine Heimat zu idealisieren, wie das viele Auslandschweizer tun. Entsetzt reagieren sie auf Schreckensmeldungen, denn auch die gibt es. «Was, in der Schweiz?» Naturkatastrophen, Gewalttaten, politische Skandale. Ja, auch in der Schweiz.
2017 war auch das Jahr mit den bisher meisten Besuchen auf der Notfallstation. Victor hatte 2009 eine Nierentransplantation und ist seither schwer angeschlagen. Ich habe eine traurige, aber wichtige Routine bekommen. Weder grantige Triage-Pfleger noch verschlafene Assistenzärzte schüchtern mich ein. Ich muss nicht mehr darüber nachdenken, was in die Notfalltasche gehört.
«Ich schreibe»
Es war auch das Jahr, in dem ich mein Schreiben zur Priorität gemacht habe. Zum ersten Mal seit langem, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Es ist das Jahr, in dem ich den absoluten Luxus genossen habe, stundenlang am Schreibtisch zu sitzen, manchmal ohne aufzuschauen. Das Jahr, in dem ich mir herausgenommen habe, Nein zu sagen. «Nein, tut mir leid, ich kann nicht. Ich schreibe.»
Es war ein Jahr, in dem sich vieles gesetzt hat, was ich in den letzten Jahren gelernt habe, Schönes wie Schwieriges. In dem ich Gewissheiten verloren, aber Sicherheit gewonnen habe.
Es war ein fürchterliches Jahr. Es war ein grossartiges Jahr. Das nächste kann nur anders werden.