Es ist paradox: Übergewicht und seine gesundheitlichen Folgen kommt Tag für Tag in den Medien vor, fast niemand aber spricht von der Mangelernährung unserer Senioren. Und während das Nahrungsmittel-Angebot so vielfältig ist wie noch nie, leiden in den Industrieländern viele ältere Menschen an Mangel- oder Fehlernährung. Die Zahlen sind alarmierend: Etwa ein Drittel der zu Hause lebenden älteren Menschen in der Schweiz leidet an Mangelernährung, gegen die Hälfte ist es in Pflegeheimen, und bis zu zwei Drittel sollen es in Spitälern sein. Dies laut einer Studie von Dr. Reinhard Imoberdorf des Kantonsspitals Winterthur und seinem Team. Das Bundesamt für Gesundheit hält dazu fest, dass betroffene Patienten unter erhöhter Morbidität und Mortalität leiden. Das Sterberisiko soll laut einer Studie des Inselspitals sogar viermal höher sein als bei Patienten mit einer normalen Ernährung.
«Mangelernährung ist bei hochbetagten Menschen ein häufiges Problem, das oft nicht ernst genommen wird und mit Altersschwäche verwechselt wird», weiss auch die leitende Ärztin am Pflegezentrum Entlisberg in Zürich, Dr. Gabriela Bieri-Brüning vom Stadtärztlichen Dienst. Die Folgen sind drastisch: Neben eingeschränkter körperlicher, geistiger und seelischer Leistungsfähigkeit sind Ernährungsdefizite im Alter mit massiv erhöhter Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit verbunden. Eine Malnutrition bedeutet Muskelabbau, was wiederum die Sturzgefahr erhöht. Sie schwächt das Immunsystem und vergrössert die Gefahr von Infektionskrankheiten. Wunden heilen schlechter, die Tumorbekämpfung ist reduziert, Heilungsvorgänge an inneren Organen und der Haut sind verzögert, Depressionen nehmen zu.
Die Ursachen sind vielfältig: «Körperliche Erkrankungen wie Demenz, schwere chronische Lungen- und Herzerkrankungen, Tumorleiden, Magen-Darm-Erkrankungen sind Gründe für eine Malnutrition», sagt Dr. Bieri-Brüning. Aber auch psychosoziale Faktoren wie Isolation, Unselbstständigkeit beim Einkaufen und Kochen, dazu Zahn- und Kauprobleme oder Nebenwirkungen von Medikamenten wie ACE-Hemmern, Schmerzmitteln oder Pillen gegen Magenübersäuerung wirken als Appetithemmer.
Klar ist, dass sich der Stoffwechsel im Alter verändert. Zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr nimmt die Muskelmasse um 10 bis 15 Prozent ab. Damit ist auch der Energiebedarf reduziert. Während der Bedarf bei einem 45-Jährigen noch bei 2400 bis 2600 Kalorien pro Tag liegt, beträgt er bei einem über 65-Jährigen nur noch rund 1900. Bei Frauen sogar nur 1700. «Der Kalorienbedarf nimmt mit dem Alter zwar ab, der Eiweissbedarf aber zu. Das ist ein Problem, da viele ältere Menschen kein Fleisch mehr essen wollen und sich vor allem von Kohlenhydraten ernähren», gibt Dr. Bieri-Brüning zu bedenken. Laut «Medical Tribune» ist bei fast jedem dritten betagten Patienten das Vitamin B12 nicht genügend vorhanden. B12 kommt vor allem in Fleisch, Eiern und Milchprodukten vor. Die Fleischunlust sollte durch gleichwertige Eiweisslieferanten wie Fisch, Käse, Quark, Eier oder Tofu ersetzt werden. Ein Mangel an Vitamin B12 führt zu Störungen sowohl im psychischen Bereich als auch bei der Nervenfunktion der Muskeln und zu Blutarmut. Das Vitamin bringt auch das meist zu tiefe Eisen in Schwung.
Ein weiteres Problem bei älteren Menschen ist der fehlende Durst. «In Kranken- und Pflegeheimen ist es eine wichtige Aufgabe, darauf zu achten, dass die Bewohnerinnen und Bewohner genug trinken. Das ist nicht immer einfach, da viele die ständige Aufforderung zum Trinken nicht schätzen», sagt die stellvertretende Chefin des Stadtärztlichen Dienstes. Hilfreich seien da gemeinsame Kaffeekränzli, wo es auch mal Eistee oder Süssmost gibt. Gern angeboten wird auch eine Ovomaltine mit kalter oder warmer Vollmilch, da damit gleich Kalorien, Eiweiss und Vitamine konsumiert werden.
Warum keine Substitution mit den fehlenden Vitaminen und Mikronährstoffen? «Die Mangelernährung im Alter ist praktisch immer eine kombinierte aus Kalorien, Eiweiss, Vitaminen, Spurenelementen und essenziellen Fettsäuren. Es bräuchte also eine Substitution in allen Bereichen», gibt Dr. Bieri-Brüning zu bedenken. Die Therapie, die helfen könnte, ist eine ausgeglichene Ernährung mit genug Eiweiss, Gemüsen, Früchten und Kohlenhydraten. Zusätzlich können Vitamine dazu verabreicht werden. Dazu die Ärztin: «Allerdings müssten die Ursachen der Mangelernährung berücksichtigt und so weit als möglich behandelt werden.»
Café complet gehört bei vielen Senioren zum liebsten Nachtessen. Das ist zu einseitig: Es führt oft zur fatalen Mangelernährung.
Dr. Gabriela Bieri-Brüning vom Stadtärztlichen Dienst ist Leitende Ärztin am Pflegezentrum Entlisberg in Zürich.
Check
Ess-Tipps für Senioren
- Flüssigkeit: 1,5 Liter pro Tag, Früchte oder Kräutertees, Frucht- oder Gemüsesäfte, Mineralwasser, Sirup, Milch.
- Stärkehaltige Nahrungsmittel: Zu jeder der drei Hauptmahlzeiten eine Beilage wie Brot, Reis, Teigwaren, Kartoffeln, Flocken, Hülsenfrüchte, Mais oder andere Getreide, bevorzugt Vollkornprodukte.
- Gemüse/Salat: Täglich zwei bis drei Portionen Gemüse oder Salat. Bei Kauoder Schluckproblemen Salat fein schneiden, Gemüse weich kochen und pürieren.
- Früchte: Zwei bis drei Portionen Früchte pro Tag, frisch, als Kompott, püriert oder in Form eines Fruchtsaftes.
- Eiweiss: Täglich zwei Portionen eiweissreiche Nahrungsmittel wie Fleisch, Geflügel, Fisch, Eier, Käse, Quark, Tofu oder Quorn.
- Kalzium: Täglich zwei bis drei Portionen Milch, Joghurt, Quark oder Käse.
- Fette: Täglich etwa drei Teelöffel hochwertiges Öl wie Raps- oder Olivenöl zum Kochen oder für die Salatsauce. Als Brotaufstrich Butter oder Margarine. Täglich einen Esslöffel hochwertige Nüsse, eventuell gemahlen im Müesli oder Kuchen.
- Süsses: Süssigkeiten können sinnvoll als Kalorienlieferant eingesetzt werden, auch als Eiweiss- und Kalziumlieferant. Geeignet sind Cremen, Puddings oder Quarkcremen.
@ Felix Platter-Spital, Basel