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Stil-Ikone und Pop-Mysterium

Gesamtkunstwerk Grace Jones feiert 75. Geburtstag

Auch mit 75 Jahren steht die jamaikanische Sängerin immer noch auf der Bühne und verblüfft ihr Publikum mit verrückten Performances. Berühmt wurde sie nicht nur durch ihre Musik, sondern auch durch ihren betont androgynen Look.

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Grace Jones: Auch im hohen Alter schrill wie in alten Zeiten.
Grace Jones: Auch im hohen Alter schrill wie in alten Zeiten. 2022 Fred Duval/Shutterstock.com

Wer so zeitlos und hyperaktiv ist wie Grace Jones, hat keine Zeit für Nostalgie. Auch im hohen Alter blickt die extravagante Ausnahmekünstlerin, die am 19. Mai 75 Jahre alt wird, ausnahmslos nach vorne.

«Nostalgie interessiert mich nicht», sagte sie bereits vor einigen Jahren in einem Interview. «Für mich ist das Wichtigste, nicht in der Vergangenheit zu leben. Ich lebe in der Gegenwart und blicke nach vorne, in die Zukunft. Ich trete nicht in Retro-Shows auf, sondern bei Festivals wie Afropunk oder Wilderness, denn da tummeln sich die jungen Leute von heute. Das ist meine Welt, nicht die Erinnerung an irgendetwas, das längst vorbei ist.»

Dass die Hohepriesterin der Extravaganz nicht auf ihre Rolle als Stilikone der Siebziger- und Achtzigerjahre reduziert werden möchte, ist verständlich. Schliesslich ist sie immer noch eine Stilikone und auch im Jahr 2023 unermüdlich mit ihren spektakulären Shows auf Tour.

Gesamtkunstwerk Grace Jones

Grace Jones' aussergewöhnlicher androgyner Look war von Anfang an Teil ihrer Kunst. Wenig verwunderlich, dass sie ihre lange Karriere zunächst als Model startete, um sich von dort aus als Gesamtkunstwerk auszuweiten.

Ihre Geschichte beginnt in Jamaika, wo sie am 19. Mai 1948 in Spanish Town nahe der jamaikanischen Hauptstadt Kingston als Grace Beverly Jones zur Welt kam. Anfang der Sechzigerjahre siedelte sie mit ihrer Familie in die USA um, wo sie recht bald die Schule schmiss, um sich zunächst als Gogo-Tänzerin in Nachtclubs über Wasser zu halten.

Karrierestart als Supermodel

Mit 18 ergatterte die schrille Rebellin einen ersten Modelvertrag bei der renommierten Agentur Wilhelmina Models. «Sie hatten allerdings Schwierigkeiten, mich zu buchen», erinnerte sie sich in einem Interview mit dem Magazin "Marie Claire«. »Damals sah ich wesentlich freakiger als heute aus.« Ziemlich schnell zahlte sich der Mut der Agentur, auf ein Model mit einem zur damaligen Zeit absolut befremdlichen Look zu setzen, aus. Anfang der Siebziger schickte man die Newcomerin in die Modemetropole Paris, wo die richtig grossen Aufträge auf sie warteten. Bald landete sie auf den Titelseiten der »Vogue« und »Elle, modelte für mondäne Labels wie Yves St. Laurent und Kenzo.

Zusammenarbeit mit Helmut Newton

Bereits in dieser frühen Phase ihrer Karriere stellte sie ihr Talent unter Beweis, sich stets mit den richtigen Leuten zu umgeben. Durch ihre Arbeit mit berühmten Fotografen wie Helmut Newton (1920-2004), Guy Bourdin (1928-1991) oder Jean-Paul Goude (84) wurde sie Anfang der Siebzigerjahre endgültig zu einem prominenten Supermodel.

Freakqueen der Disco-Ära

Neben ihrem Modeljob begann sie in den frühen Siebzigern damit, ihre musikalischen Ambitionen zu verfolgen. Ihren ersten Auftritt als Sängerin hatte sie auf einer Show des japanischen Modedesigners Issey Miyake (1938-2022). Im Jahr 1977 veröffentlichte sie ihr vom damaligen Disco-Hype geprägtes Debut-Album «Portfolio», dem bis 1979 noch zwei weitere Disco-Scheiben folgten.

Mit ihren Songs und diversen Cover-Versionen im Gepäck tingelte sie durch alle grossen Clubs jener wilden Zeit, wie dem «Studio 54» in New York oder dem «Le Palace» in Paris. In New York bewegte sie sich im Umfeld von Andy Warhol und liess keine Möglichkeit aus, auf den Partys der Stadt mit extravaganten Outfits zu schockieren.

Radikaler Imagewechsel Anfang der Achtzigerjahre

Mit dem Anbrechen der Achtzigerjahre hatte sie genug von Disco und beschloss, einen radikalen Imagewechsel zu vollziehen. In ihren 2015 erschienenen Memoiren «I'll Never Write My Memoires» resümiert sie: «Disco war ein Unfall, innerhalb von ein paar Jahren hatte ich meine drei Disco-Alben veröffentlicht, produziert von Tom Moulton. Sie wurden mehr seine Vision als meine. Ich wurde zur Dekoration, und das langweilte mich.»

Langeweile sollte im weiteren Verlauf ihrer Karriere nicht mehr aufkommen. Von nun an machte Grace Jones ihr eigenes Ding und entwickelte sich endgültig zu der einzigartigen Kunstfigur, die man heute mit ihrem Namen verbindet. Eine zentrale Rolle bei ihrem bewussten Imagewandel spielte ihr damaliger Lebenspartner Jean-Paul Goude, der als Fotograf und Grafik-Designer an ihrer Entwicklung zur kühlen Stil-Ikone der Achtziger entscheidenden Anteil hatte. Von ihm stammt auch das ikonische Cover des Albums «Nightclubbing», auf dem man die «neue» Grace Jones mit extrem geometrischer Frisur, unterkühltem Blick und einer Zigarette im Mundwinkel bewundern kann.

Neuer Look, neuer Sound

Auch in Chris Maxwell (84), dem Gründer des Labels Island Records, fand sie einen Mann, der sie auf ihren neuen musikalischen Wegen tatkräftig unterstützte. Mit einer für sie zusammengestellten Band aus hochkarätigen Studiomusikern konnte sie endlich die Musik aufnehmen, die ihrem Wesen entsprach. In dieser Besetzung spielte sie zwischen in schneller Folge drei Alben - Warm Leatherette (1980), Nightclubbing (1981) und Living My Life (1982) - ein, mit der sie ihren Weltruhm als Musikerin begründete.

Im Gegensatz zu den vorherigen Disco-Scheiben war sie diesmal auch an der Produktion beteiligt und bekam somit die Möglichkeit, ihren eigenen musikalischen Stil zu entwickeln. Die Musik dieser Alben bestand nun aus einem extrem tanzbaren Stilmix von New Wave, Reggae und elektronischen Elementen. Passend zum neuen Sound entwickelte Grace Jones einen einzigartigen, stets etwas unterkühlt wirkenden Sprechgesang, der zu ihrem Markenzeichen werden sollte.

Ihre volle Wucht entfesselten die Songs allerdings in Kombination mit ihren skurrilen Bühnenperformances, bei der sie gerne mal in einem Gorillakostüm auf die Bühne kam oder das Publikum verwirrte, indem sie die Tänzer mit Grace-Jones-Masken und Armani-Anzügen ausstattete. Dass sie dabei immer wieder die Geschlechterrollen durcheinander wirbelte, trug zu ihrem Status als Queer-Ikone massgeblich bei.

Endgültiger kommerzieller Durchbruch

Der grosse kommerzielle Durchbruch erfolgte schliesslich Mitte der Achtzigerjahre, als sie mit Songs wie «Slave to the Rhythm» die Charts eroberte und endgültig zum Liebling der Medien avancierte. In dieser Zeit dehnte sie ihr künstlerisches Schaffen auch auf den filmischen Bereich aus und wirkte in Filmen wie «James Bond 007 - Im Angesicht des Todes» oder «Conan der Zerstörer» mit.

Nach 1989 erschienen über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren keine weiteren Alben, erst im Jahr 2008 legte sie mit dem Album «Hurricane» noch einmal imposant nach. Dennoch blieb sie für ihre treue Fangemeinde mit regelmässigen Shows in der ganzen Welt stets als Performancekünstlerin präsent.

Keine Kooperationen mit Nachwuchs-Stars

Dabei ist sie sich selber bis heute kompromisslos treu geblieben. Obwohl sie von den Musik-Stars der heutigen Zeit regelmässig Angebote für lukrative Kooperationen erhält, lehnt sie zumeist dankend ab, wie sie in ihrer Autobiografie berichtet.

Dort heisst es: «Ich weiss noch, wie eine der Sängerinnen auf der Liste derer, die mich anfragten, sagte, sie wolle mit mir arbeiten. Alle um mich herum sagten: ‹Das musst du unbedingt machen, es wird dich einem ganz neuen Publikum vorstellen und du wirst eine Menge Geld verdienen›. Nein! Es wird gut für sie sein; sie wird von allem, was ich aufgebaut habe, profitieren und es zu ihrer Marke hinzufügen, und ich werde nichts zurückbekommen, ausser ein wenig vorübergehende Aufmerksamkeit. Es ist okay, dass ich mir keine Gedanken über ein neues Publikum mache. Wenn sich der Scheiss nicht richtig anfühlt, dann lass es sein.»

Von SpotOn am 19. Mai 2023 - 06:31 Uhr