Nein – «Brat» ist nicht der Vorname des muskelbepackten Quarterbacks des Football-Teams aus einer 90er-Highschool-Serie. Ein «Brat» ist eine Person, die man in der hochdeutschen Sprache eher abschätzig als «Balg» oder «Goof» betiteln würde, die zweifelhafte Bezeichnung für jemanden, der sich nicht an die Normen der Gesellschaft hält – dazwischenruft, wenn es unpassend ist. Und der Obrigkeit gerne seine Meinung pfeift. Dass der potenziellen zukünftigen mächtigsten Frau der Welt seit dieser Woche all diese Attribute zugesprochen werden, mutet seltsam an, aber: Sie könnten US-Vizepräsidentin Kamala Harris (59) den goldenen Weg ins Weisse Haus ebnen. Und Schuld daran ist ausgerechnet die als wahlfaul geltende Generation Z. Die findet nämlich: Am Göre-Sein kommt man dieses Jahr nicht vorbei. Willkommen im «Brat Girl Summer» – der noch bis tief in den Herbst andauern wird.
Dass die Gen-Z aktuell so aufs Rebellentum abfährt, liegt vor allem an der britischen Musikerin Charli XCX (31). Bereits Anfang Juni veröffentlichte sie ihr Album mit dem Namen «Brat», das sie gegenüber der BBC als musikalische Personifizierung einer Frau beschrieb, «die im Spaghetti-Trägertop ohne BH mit einer Packung Zigaretten rumläuft, die sie mit einem Bic-Feuerzeug anzündet». Charlie XCX' «Brat» sei «ein Mädchen, das ein bisschen chaotisch ist, gerne Party macht und manchmal dumme Sachen sagt.» Um zu ergänzen: «Direkt, ehrlich und ein bisschen flatterhaft.» Und was hat das mit Kamala Harris zu tun? Kurz nachdem Joe Biden (81) seinen Rückzug als Kandidat bekannt gegeben hatte, urteilte die britische Sängerin: «Kamala IS brat» – «Kamala IST eine Göre».
«Wer ist überhaupt Donald Trump?»
Und damit für die Generation Z augenblicklich eine von ihnen. Der frühe Morgen des 22. Juli ist die Geburtsstunde einer Präsidentschaftskampagne, die ohne grosses Zutun der eigentlichen Kandidatin zum Selbstläufer wird. Und im November das Zünglein an der Wage sein könnte – wenn Harris den Atem hat, ihr eigenes Internetphänomen bis in den Herbst mitzukultivieren.
Seit Charli XCX' digitalem Ritterschlag führt auf Tiktok und Co. kein Weg mehr an Kamala Harris vorbei. Bereits kurz nach ihrem ikonischen Tweet machte ein Zusammenschnitt die Runde, der die Amerikanerin tanzend zu den Klängen des Charli-XCX-Songs «360» zeigt – das Video ist natürlich in der neongrünen Optik des Albums «Brat» gehalten. «Ich hoffe, wir können sie zur Präsidentschaft meme-en. [...] Wer ist überhaupt Donald Trump? Ich bin so bereit für die Kokos-Palmen-Ära!», heisst es in einem der unzähligen euphorischen Kommentare. Die Userin spricht darin Harris Ausspruch an, den sie vor über einem Jahr in Zusammenhang mit Chancengleichheit tätigte. Ihre Mutter habe sie einst gefragt: «Denkst du, du bist aus einer Kokospalme gefallen? Du existierst nur im Kontext aller derer um dich herum und dessen, was vorher war.» Mittlerweile gelten die Kokosnuss genau wie das Leben als Göre als inoffizielles Mantra der Generation Z.
«Wähler dort abholen, wo sie sind»
Ob Harris nun zu rauchen beginnt oder ihre Wahlkampfveranstaltungen in Spaghetti-Träger-Shirts bestreitet – fraglich. Schliesslich muss die jetzige Vizepräsidentin auch eine ältere, konservativere Bevölkerungsschicht von sich überzeugen. Dennoch begreift sie es zurzeit ausgezeichnet, die jüngste, meist apolitische Wählergruppe hinter sich zu vereinen – das zeigt nicht nur der in «Brat»-Grün gehaltene X-Account «KamalaHQ», der sich selbst als «sofortige Antwort auf Harris' Präsidentschafts-Kampagne» versteht. Gavin Reynolds, Harris' ehemaliger Redenschreiber, erklärte gegenüber dem britischen «Guardian», es sei «extrem klug von ihr, sich auf das Meme einzulassen. Es zeigt, dass sie erkannt hat, wie wichtig junge Wählerinnen und Wähler für einen Sieg im November sind, und dass sie sich verpflichtet, sie dort abzuholen, wo sie sind.»
Dass jungen Wählerinnen und Wählern nicht nur durch Tiktok-Algorithmen, sondern auch realpolitische Themen beeinflusst werden, bestätigte erst gestern Mittwoch Polit-Journalistin Elena Moore im US-Podcast «NPR Politics». Das macht sie an einem jungen, bisher unentschiedenen 18-Jährigen aus dem Swingstate Michigan fest, der sich klar auf Harris' Seite schlagen würde, sollte sie weiterhin einen Waffenstillstand im Nahen Osten befürworten. Ähnlich populär bei jungen Wählerinnen und Wählern ist Harris' Haltung bei Themen wie Abtreibung oder Black Lives Matter.
Für Harris' Beliebtheit bei der Gen-Z sprechen momentan weniger Ipos-Umfragewerte, die sie mit 44 Prozent zwei Punkte vor Trump sehen. Auffällig ist vor allem, dass 61 Prozent der Gelder für ihre Kampagne von Erst-Spendern stammen. Es spricht alles für einen «Brat Girl Summer» – mit heissem Höhepunkt im Herbst.