Zwei Sicherheitstore schützen die gelbe Villa von Shania Twain in Tour-de-Peilz VD. Ihre Hunde springen uns entgegen und begleiten uns vom Hof bis auf die Veranda. Vor dem gigantischen Porträt des kanadischen Superstars in einem der Wohnzimmer thront ein Klavier. Und vom Garten aus, mit Palmen und Pool, blickt man direkt auf den Genfersee sowie den Berg Grammont und die Dents du Midi. Die Hausherrin, barfuss und in Schwarzweiss gekleidet, stutzt gerade einen Rosenstrauch. «Bonjour», sagt sie lächelnd.
Vor 17 Jahren hat die Sängerin, deren Album «Come on Over» das meistverkaufte in der Countrymusik-Geschichte ist, angefangen, Französisch zu lernen. Sie geht zurück ins Haus, denn ihre Gäste, die Knies, sollten jeden Moment eintreffen. «Sie sind wie ich Zirkuskinder», sagt Shania. Begleitet werden sie von Thierry Amsallem, Präsident der Claude-Nobs-Stiftung, mit dem die Sängerin befreundet ist.
Seit 23 Jahren lebt Shania Twain, geboren als Eilleen Regina Edwards, bereits in der Schweiz – ganz diskret. Jedes Jahr taucht sie auf der Liste der 300 reichsten Schweizer auf, dennoch hat sie ihre Türen stets verschlossen gehalten – bis heute. Als wir sie fragen, ob wir die ersten Journalisten sind, die sie zu Hause besuchen dürfen, lacht sie. «Das ist so, aber ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich hier lebe. Ich ging früher immer mit dem Kinderwagen spazieren und begleitete meinen Sohn zur Schule, wie alle anderen Mütter auch.»
Über ihr Privatleben weiss, Medien sei Dank, die ganze Welt Bescheid. Vor allem ihre Trennung vom Produzenten Robert John «Mutt» Lange sorgte für Schlagzeilen. 15 Jahre lang war er ihre bessere Hälfte. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten folgte 1993 die Heirat. Als Co-Autor ihrer Songs, wie von «Man! I Feel Like a Woman», feierten sie zusammen Welterfolge. 1997 folgte «Come on Over», ein weiterer Hit!
Ihr Vermögen mit «Mutt» Lange, der auch Produzent von AC/DC, Lady Gaga und Muse war, wird auf 350 bis 500 Millionen Dollar geschätzt. Die beiden schienen ein perfektes Match, bis Lange eines Tages mit seiner Sekretärin und Shanias bester Freundin Marie-Anne Thiébaud abhaute. Ein Schock für die Sängerin – wie auch für den gehörnten Ehemann, den Waadtländer Frédéric Thiébaud.
In der Romandie bekam das jeder mit, ohne zu wissen, wer Shania Twain war. Den Betrug beschreibt der Country-Pop-Star «wie einen Messerstich in den Rücken und ins Herz». Die Sängerin wurde depressiv. «Betrogen zu werden, hinterlässt zwar keine sichtbaren Spuren, aber es macht einen verletzbar. Man verspürt Wut, Frustration und Trauer.»
In dieser schweren Zeit gab ihr der ebenfalls betrogene Frédéric Thiébaud, 49, Halt. «Fred stand früher vor allem meinem Ehemann nah. Wir kannten uns kaum.» Durch ihre Kinder Eja, 18, und Johanna, 19, kamen sie sich immer näher. «Wir verstanden uns gut, da wir das Gleiche erlebt hatten. Jeder hat ein Stück des Weges gemacht», erzählt Shania. Und mit der Zeit wird aus Freundschaft Liebe.
«Im Luftballon über Gruyère habe ich 2010 um ihre Hand angehalten. Der Flug verlief gut, die Landung war hingegen etwas holprig», erinnert sich Thiébaud amüsiert. Der grosse Mann mit dem langen, lockigen Haar ging lächelnd vor Shania auf die Knie. «Er bat mich um Erlaubnis, mich lieben zu dürfen», so Shania. Das Paar heiratete im Januar 2011 in Puerto Rico. Frédéric wird die Liebe ihres Lebens.
Mit ihren 54 Jahren strahlt Shania Twain Energie aus. «Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe; I survived!», sagt sie. Frédéric arbeitete früher bei Nestlé und Nespresso. Nun hat sich der Geschäftsmann selbstständig gemacht. «Es war notwendig, um zusammen zu sein. Vorher waren wir beide ständig unterwegs.» Jetzt begleitet er sie auf Tournee. «Ich koordiniere alles backstage, Shania kümmert sich um das Artistische.»
Ein Wohnwagen fährt in die Einfahrt. Mary-José Knie und ihr Enkelsohn Ivan Frédéric haben eine Überraschung für die Künstlerin: Hermès, einen holländischen Friesen. Das Pferd macht Eindruck. «Er ist schön und weiss es», sagt Ivan. Pferde sind nebst der Musik eine grosse Leidenschaft der Hausherrin.
«Achtung, er ist ein Ferrari!», warnt Maycol Errani, der Stallmeister des Zirkus. «Ferraris hatte ich schon einige», sagt Shania und lacht. Gekonnt steigt sie ohne Steigbügel auf. In ihrem alten Wohnsitz beim Schloss Sully VD besass sie ungefähr zehn Pferde. Maycol befielt dem Tier «Hoch!», und Hermès steigt auf seine Hinterbeine. Ganz Showgirl, blickt Shania zum Fotografen. «Keep shooting! Clic, clic, clic!», sagt sie.
Thierry Amsallem ist beeindruckt. Diesen Sommer war Shania Twain Fünf-Sterne-Botschafterin für Bon Iver, Tom Jones, Joan Baez, Janet Jackson, Rita Ora, Slash oder Billy Gibbons von ZZ Top. «Die Konzerte am Montreux Jazz Festival und die Jamsessions um 2.30 Uhr morgens mit Janelle Monáe, Lizzo, Quincy Jones und mir waren einmalig. Ausserdem habe ich dreimal die Fête des Vignerons besucht», schwärmt Shania. Claude Nobs’ Nachfolger Amsallem kennt die Wahlschweizerin gut. «Es gibt Shania und Eilleen», sagt er. Erstere hat fünf Grammys gewonnen und über 100 Millionen Tonträger verkauft. Sie muss niemandem etwas beweisen. Zweitere hat Dramen besiegt und hält ihre inneren Narben versteckt.
Shania wuchs in Kanada auf. «Ich komme aus sehr armen Verhältnissen. Mein biologischer Vater hat uns verlassen, als ich zwei Jahre alt war.» Ihre Mutter Sharon heiratete später noch einmal: Jerry Twain, alkoholabhängig und gewalttätig. Das Paar und die fünf Kinder lebten und schliefen in einem einzigen Raum. «Wir sind ständig umgezogen. Siebzehnmal musste ich die Schule wechseln.»
Shania hatte weder Kleider noch Hygieneartikel. Mittags gab es einen Apfel und eine Scheibe Brot mit Butter und Senf. «In der Mittagspause blieb ich mit meiner Gitarre im Klassenzimmer und tat, als würde ich üben. Dabei versuchte ich, meinen Hunger zu vergessen. Ich schämte mich wegen meines Körpergeruchs und den Löchern in meinen Kleidern.»
Eines Abends schlug ihr Stiefvater den Kopf ihrer Mutter gegen die Toilette und tauchte ihn in die Kloschüssel. Shania, damals elf Jahre alt, glaubte, sie sei tot, und schlug ihm einen Stuhl auf den Rücken. Es war das erste Mal, dass sie sich wehrte. «Heute noch, wenn ich zwei Menschen streiten sehe, schreite ich ein. Ich kann nicht anders.»
Shania sitzt uns gegenüber. Ihre Beine sind gekreuzt, sie scheint unverletzt. «Es ist schwer verständlich, wie ich stabil bleiben konnte, während ich so aufwuchs. Damals war es für mich normal. Ich bin nicht mehr wütend, ich habe ihm vergeben.» Sie hatte sich geschworen, anderen zu helfen, wenn sie eines Tages genug verdienen würde. Ihr Versprechen hat sie gehalten: Die Stiftung Shania Kids Can wird von ihrem Mann geführt und hilft Menschen, dem Teufelskreis aus Armut, Gewalt und Einsamkeit zu entkommen.
Ihre Rettung war die Musik. «Es war meine Art, der Realität zu entkommen.» Shania singt, seit sie drei Jahre alt war. «Die erste Melodie, an die ich mich erinnere, ist ‹Twinkle, Twinkle, Little Star›.» Sie war acht, als sie für ein paar Dollarscheine in schmutzigen Bars auftritt. «Um Mitternacht stieg ich auf die Bühne. Ich sah Stripperinnen tanzen, Schlägereien ausbrechen, Flaschen an die Wand fliegen.» Mit zehn schrieb sie ihre ersten Lieder, darüber, wie sie diesem Elend entfliehen will. 12 Jahre später, 1987, starben ihre Eltern bei einem Autounfall. Shania war 22 Jahre alt, als sie sich von einem Tag auf den anderen um ihre Geschwister kümmern musste. Sechs Jahre lang erzog sie ihre Brüder Mark und Darryl und kümmerte sich um die Jüngste, Carrie.
Eilleen erfand sich neu und wurde Shania – «ich bin mein Weg». Dank ihrer aussergewöhnlichen Stimme wurden schon bald Agenten auf sie aufmerksam, und sie bekam einen Plattenvertrag bei Polygram. «Die Musik hat mir das Leben gerettet!» Stück für Stück baute Shania Twain ihre Karriere auf. Von der schummrigen Bar bis zum Stadion mit 100'000 Besuchern. Vier Alben brachte sie zwischen 1993 und 2002 heraus, duzte Legenden wie Elton John und Céline Dion.
Doch 2003 schlug das Schicksal erneut zu: Ein schrecklicher Schmerz zwang sie zur Ruhe. Ihre Pause dauerte 13 Jahre. «Ich wurde von einer Zecke gebissen und erkrankte an Lyme-Borreliose.»
Die Ärzte diagnostizierten eine Dysphonie. «Die Nerven meiner Stimmbänder waren auf einer Seite zu 20 Prozent und auf der anderen zu 10 Prozent gelähmt.» Sie unterzog sich einer Laryngoplastik und fing sich wieder – mit einer leicht veränderten Stimme. «Wenn man für 110 Konzertdaten unterschrieben hat, gibt es kein Zurück!» 2017 folgte ihr Comeback: Sie präsentierte ein neues Album – das nächste ist bereits für 2020 geplant. «Ich fand wieder Vertrauen in mich.»
Zwei Tage nach unserem Interview am Genfersee fliegt Shania nach Las Vegas, wo sie am 6. Dezember mit ihrer neuen Show «Let’s Go!» im Zappos Theater auftritt. Die Sängerin ist bereit wie nie, sich ihrem Schicksal zu stellen.
Übersetzung: Pauline Broccard