Wut, Schmerz, Trauer sind ihr ins Gesicht geschrieben. «Als er Alexei getötet hat, hat Putin auch die Hälfte von mir, meines Herzens und meiner Seele getötet», sagt Julia Nawalnaja (47) in einem Youtube-Video. Ihre grosse Liebe ist tot. Russlands berühmtester Kreml-Kritiker Alexei Nawalny ist in Haft nach einem Spaziergang zusammengebrochen, so meldet es die Verwaltung des Straflagers in Sibirien, in dem der 47-Jährige inhaftiert war.
Drei Tage nach dem Tod ihres Ehemannes gibt Julia Nawalnaja bekannt, dass sie seinen Kampf gegen den Kreml fortsetzen wird. «Und ich rufe euch alle auf, mir beizustehen.» Dabei wollte sie nie eine politische Figur sein – sondern Ehefrau und Mutter. Wer ist diese Frau, die nun diese gewaltige und gefährliche Aufgabe übernimmt?
Getroffen an Bushaltestelle
Julia Nawalnaja wird 1976 in Moskau geboren. Ihre Mutter arbeitet bei Gosplan, der zentralen Wirtschaftsplanungsbehörde, ihr Vater bei einem Forschungsinstitut. Eine durchschnittliche sowjetische Familie, die in einem Hochhaus des olympischen Dorfs in Moskau lebt. Als Julia in die fünfte Klasse kommt, trennen sich die Eltern. Sie studiert internationale Wirtschaft an der renommierten Plechanow-Universität und arbeitet für eine Bank.
Mit 22 Jahren lernt sie in den Ferien in der Türkei den gleichaltrigen Juristen Alexei Nawalny kennen. Er sieht sie an der Bushaltestelle in der Nähe seines Hotels. «In diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie heiraten werde», sagt er später in einem Interview. Zwei Jahre nach dem ersten Treffen wird sein Traum wahr. Nach der Heirat hilft sie den Schwiegereltern, Korbmöbel zu verkaufen.
2001 kommt Tochter Darja zur Welt, 2008 Sohn Zakhar. Alexei Nawalny wird ab 2007 immer bekannter als Blogger und Oppositionspolitiker, während seine Frau sich voll und ganz um die Familie kümmert. Sie baut ihr Leben um das ihres Mannes auf, meidet das Rampenlicht. Nur in den sozialen Medien teilt die Mutter Einblicke in das Familienleben: Zakhar und dessen Grossvater fischen, Alexei grilliert Fleischspiesse, Darja feiert ihren Geburtstag.
Kampf wie eine Löwin
Inzwischen schauen Millionen Menschen Nawalnys Videos über die Korruption der russischen Regierung. Er stellt sich öffentlich gegen Wladimir Putin (71). Bezeichnet ihn als Verbrecher und Gauner, veröffentlicht seinen absurden Reichtum und organisiert massive Proteste.
Bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 erhält er überraschend 27 Prozent der Stimmen. Nawalny wird zum Dorn in Putins Auge – und so auch zur Zielscheibe. Der Familienvater riskiert damit seine Freiheit und Unversehrtheit. Seine Frau trägt diese Entscheidung mit, von der Seitenlinie aus. Sie wirkt immer gefasst und zurückhaltend.
Alles ändert sich am 21. August 2020. Alexei Nawalny wird Opfer eines Anschlags mit dem Nervengift Nowitschok. Während er im Koma liegt, steht Julia Nawalnaja in Lederjacke und schwarzer Sonnenbrille vor dem Spital in der sibirischen Stadt Omsk und fordert die Welt auf, ihren Mann zu retten. Sie organisiert eine Überführung in die Universitätsklinik Charité in Berlin, um ihm eine sichere ärztliche Behandlung zu ermöglichen. Sie kämpft wie eine Löwin um die Liebe ihres Lebens.
Warum die Rückkehr?
Zwei Wochen bleibt sie an seiner Seite. Während ihr 20. Hochzeitstag verstreicht, harrt sie aus, ohne zu wissen, ob er sie je wieder küssen wird. Dann erwacht er aus dem Koma und sagt später: «Liebe heilt und erweckt zum Leben. Julia hat mich gerettet, und das sollte man in die Lehrbücher für Neurowissenschaften schreiben.»
2021 kehrt Nawalny nach Russland zurück, obwohl er den Giftanschlag dem Kreml anlastet – auch damals steht Julia an seiner Seite. «Bringen Sie uns Wodka, wir fliegen nach Hause», soll sie im Flugzeug gesagt haben. Nawalny wird direkt nach der Landung in Moskau verhaftet. Aber warum überhaupt diese Rückkehr?
Der russische Autor Michail Schischkin beantwortet diese Frage im Onlinemagazin «Republik» so: «Er gehörte zu den Menschen, für die es Wichtigeres gibt als das eigene Leben.» Ab da verbringt Nawalny keinen Tag mehr in Freiheit. Im Straflager im eisigen Sibirien wird er mit Schikanen drangsaliert, sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Rückenschmerzen, Fieber und Zahnprobleme quälen ihn.
Blaue Schneestürme
Nawalnaja und ihre Kinder halten sich nicht mehr in Russland auf. Tochter Darja (23) studiert Psychologie an der Eliteuniversität Stanford in Kalifornien. Sohn Zakhar (15) besucht ein Internat in Deutschland, wo auch Nawalnaja lebt.
Nawalny kann in den letzten Monaten nur sporadisch und immer seltener über Briefe kommunizieren. Trotzdem schafft er es über seine Kontakte, Lebenszeichen in die Welt zu senden – und auch Liebeserklärungen an seine Julia. Ohne sie wäre sein Leben anders verlaufen, schreibt er zu ihrem Geburtstag im vergangenen Jahr. «Dann wäre ich wohl der unglücklichste Mann auf der Welt gewesen.»
Diese Liebe kennt bis zum Schluss keine Gefängnismauern. Das zeigt seine letzte öffentliche Botschaft. Am Valentinstag postet Nawalny auf Instagram ein Foto mit seiner Frau und schreibt dazu: «Wir mögen durch blaue Schneestürme und Tausende Kilometer getrennt sein, aber ich fühle, dass du jede Sekunde in meiner Nähe bist, und ich liebe dich immer mehr und mehr. Wie grenzenlos Julias Liebe zu ihrem Mann ist, zeigt sie eine Woche später, als sie den Kampf aufnimmt – obwohl sie nie wollte.