Für einen Moment steht Amerika still. Es ist Sonntag, kurz nach 14 Uhr an der Ostküste. US-Präsident Joe Biden (81) tritt als Präsidentschaftskandidat ab. Das ganze Land staunt. Bis er Vizepräsidentin Kamala Harris (59) als Nachfolgerin empfiehlt.
Seither wirkt Amerika wie elektrisiert. Tassen und T-Shirts mit dem Schriftzug «Harris for President» finden reissenden Absatz. Tiktoker veröffentlichen nonstop Harris-Videos. Und die Demokraten spenden in nur einem Tag über 100 Millionen Dollar an den Wahlkampf der neuen Kandidatin.
Weil sie endlich wieder Hoffnungen haben. Weil Harris sagt: «Ja, ich will.» Und weil ihr gelingen könnte, was Biden wohl kaum geschafft hätte: Donald Trump (78) als Präsident zu verhindern.
Plötzlich wirken die Republikaner alt und die Demokraten jung. Und jung und neu ist das, was Amerika begehrt. Sollte sie im November gewählt werden, würde sie Geschichte schreiben. Die erste Frau, die nicht nur im Weissen Haus wohnt, sondern von dort aus regiert. Eine Tochter von Einwanderern als mächtigster Mensch der Welt.
Sie stehe für «einen Neuanfang der amerikanischen Politik», sagt die ehemalige Aussenministerin Hillary Clinton (76). «Kamala ist talentiert, erfahren und bereit, Präsidentin zu werden. Sie kann Donald Trump besiegen.»
Einfach wird das nicht – bei aller Euphorie. Trump führt in den Umfragen. Und er besetzt die Themen, die den Menschen in den sogenannten Swing States wie Michigan, Wisconsin oder Pennsylvania wichtig sind, dort, wo die Wahl entschieden wird: Wirtschaft, Militär, Energie. Harris hingegen bevorzugt soziale Anliegen, was in New York oder Kalifornien ankommt – in zwei Staaten, die sie ohnehin gewinnen wird.
Wofür Harris brennt, ist unklar. Ihr eilt ein zweifelhafter Ruf voraus. Als Vizepräsidentin hat sie wiederholt Mitarbeiter vergrault. Als sie vor vier Jahren erstmals Präsidentin werden wollte, brach sie den Wahlkampf ab, bevor er begann. Ihr fehlte damals eine klare Botschaft. Vor Kurzem noch erklärte sie, der sichtlich altersschwache Biden sei in Topform.
Politisch steht sie links von Biden. US-Wahlen aber werden in der Mitte gewonnen. Biertrinkerinnen entscheiden sie, nicht Matcha-Latte-Schlürfer. Und zwar in den erwähnten Swing States, die eine Schlüsselrolle spielen. Dort, wo Menschen Waffen mögen, grosse Benzinautos fahren und Abtreibung für Teufelswerk halten. Das Gegenteil von all dem, was Harris mag.
Folglich lautet die zentrale Frage: Kann Harris genügend Demokraten im Landesinneren mobilisieren?
Für sie spricht: Sie holt Frauen und junge Leute zurück ins demokratische Lager, die sich von Biden abgewandt haben. Gegen sie spricht: Sie dürfte ebenso viele Republikaner mobilisieren, die sie als rotes Tuch betrachten.
Bonuskinder nennen sie «Momala»
Kamala – ihr Vorname bedeutet in Sanskrit Lotosblume. Zur Welt kam sie am 20. Oktober 1964 in Oakland, Kalifornien. Sie wuchs in der Nachbarstadt Berkeley auf, im liberalen Herzen der USA. Ihre Mutter war eine indisch-amerikanische Krebsforscherin. Ihr Vater ist ein jamaikanisch-amerikanischer Wirtschaftsprofessor. Er nahm Kamala und ihre Schwester Maya mit auf Bürgerrechtsmärsche. Was Kamalas Sinn für Gerechtigkeit schärfte.
Vor zehn Jahren heiratete sie den Anwalt Douglas Emhoff, 59, der zwei Kinder aus einer früheren Beziehung in die Ehe brachte. Ella (25) und ihr älterer Bruder Cole (29) nennen Harris liebevoll «Momala» – Mama Kamala. Sie ist Baptistin und huldigt Elementen des hinduistischen Glaubens.
Ihr Mann ist jüdisch und in Brooklyn geboren. Bewusst stellte er seine Karriere zurück. Nach ihrem Aufstieg zur Vizepräsidentin schied der Second Gentleman aus einer Anwaltskanzlei aus, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Nun lehrt er Recht in Washington.
Will er zum First Gentleman aufsteigen, muss Harris einen Sprint hinlegen. Bereits in 101 Tagen wählen die USA. Bis dann soll das Land wissen, wer genau sie ist und was sie will. Einzig «nicht Trump» zu sein, reicht kaum. Mitte August lässt sich Harris in Chicago am Parteikongress zur Kandidatin küren. Bislang regt sich dagegen parteiintern keinerlei Widerstand.
Wer wird Vizekandidat?
Ebenfalls in Chicago wählt die Partei ihren Vizekandidaten. Zwei Namen ragen heraus: Pennsylvanias Gouverneur Josh Shapiro (51) weil er im Swing State Pennsylvania viele Stimmen für Harris holen könnte. Favorit ist aber Senator Mark Kelly (60) aus Arizona. Der ehemalige Astronaut könnte den Republikanern beim heiklen Thema Zuwanderung Paroli bieten. Da Harris für die Sicherheit an der Grenze zuständig ist, attackiert sie Trump dort scharf. Und er schimpft sie «Bidens Co-Pilotin», macht sie mitverantwortlich für die hohen Preise in den Supermärkten und an den Zapfsäulen, für die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine.
Sie lässt alles mit Charme und Coolness abperlen. Das erinnert an Barack Obama (62). Wie der Ex-Präsident soll Harris nun weitere Barrieren durchbrechen. Ob sie Trump nun besiegt oder nicht – der Platz in den Geschichtsbüchern ist ihr nicht mehr zu nehmen.