Manche nennen sie die «wichtigste Wahl des Jahres». Umso grösser ist der Frust, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner am Morgen nach dem Wahltag nicht wissen, wer die nächsten vier Jahre ihr Land regieren wird. Die Fronten zwischen Trump- und Biden-Anhängern sind verhärtet. Demonstranten ziehen in der Nacht nach dem Urnengang durch Washington D.C., Los Angeles und viele weitere Städte. Es kommt zu Kampfszenen, Festnahmen und Rauchbombeneinsätzen durch die Polizei.
Dass die amerikanische Seele kocht, weiss auch das Weisse Haus. Am Wahltag steht vor dem Zaun eine Schutzmauer. Die Erinnerungen an die Anti-Rassismus-Proteste vom Juni sind noch immer präsent. Das Auszählen der Stimmen dauert lange. Die Wahlbeteiligung ist so hoch wie seit 1900 nicht mehr: Rund 67 Prozent nahmen teil. Die Polarisierung, die Wut der Amerikaner mobilisierten Wählerinnen und Wähler an beiden Enden des politischen Spektrums.
Während Freiwillige noch Stimmen zählen, ergreift Donald Trump im Weissen Haus das Wort. Ein bizarrer Auftritt. Er erklärt sich, Verwünschungen ausstossend, an der nächtlichen Medienkonferenz zum Sieger im Beisein seiner Familie und des Vizepräsidenten Mike Pence. «Wir haben diese Wahl gewonnen», behauptet der US-Präsident. Dabei sind noch Millionen Wahlzettel ungezählt! Sogar Trump-Befürworter wie SVP-Nationalrat Roger Köppel können diesem Gebaren wenig abgewinnen: «Es ist absolut unverantwortlich, sich jetzt zum Sieger zu erklären. No-Go!»
Derweil gratuliert Sloweniens Premierminister als erster Regierungschef eines europäischen Landes zum Sieg. Janez Jansa schreibt auf Twitter: «Es ist ziemlich klar, dass das amerikanische Volk Donald Trump und Mike Pence für weitere vier Jahre gewählt hat. Verzögerungen durch die Mainstream-Medien machen seinen Triumph noch viel grösser. Gratuliere zu den guten Resultaten!»
Donald Trump legt noch nach: Die Demokraten würden vor Gericht ziehen, weil sie ihre Niederlage kommen sähen, behauptet er an derselben Pressekonferenz. «Das ist Betrug am amerikanischen Volk!» Handkehrum will er selber an den Obersten Gerichtshof gelangen, um die Auszählung der Stimmen zu stoppen. Eine Forderung ohne gesetzliche Legitimierung. Am Folgetag zweifelt sein Wahlkampfteam auch noch das Ergebnis in Wisconsin an und verlangt eine Nachzählung. Ein Bundesstaat, in dem Trump vorne lag, Biden aber aufholte.
Dieses Wahltheater wird die USA noch lange beschäftigen. Wann immer der Sieger definitiv feststeht – es wird kein unbeschwertes Fest geben. Zu gross die Zerrissenheit nach diesem Entscheid auf Messers Schneide. Zu tief die Gräben quer durchs Land und viele Familien.
Donald Trump stösst in der Wahlnacht selbst Freunde vor den Kopf
Die grossen Verlierer der Wahl sind die Demoskopen. Sie prophezeiten Biden einen Erdrutschsieg. Stattdessen festigte Trump sein Resultat in jenen Staaten, die ihn schon vor vier Jahren gewählt hatten. Und in Florida punktete er bei den Latinos trotz seiner häufig ausländerkritischen Äusserungen.
Biden blieb nur die Hoffnung auf die «Swing States», Bundesstaaten, die mal republikanisch, mal demokratisch wählen. Er kann vor allem die Stimmen von Frauen für sich gewinnen. Die Sorge um die Wirtschaft spielte Trump in die Hände. Bei Rassismus und der Coronavirus-Pandemie vertrauten die Wähler hingegen eher Joe Biden. Die Zerrissenheit spiegelt sich auch im Resultat bei Senat und Repräsentantenhaus.
Macht Donald Trump seine Drohung wahr und gelangt ans Oberste Gericht, dürfte das definitive Ergebnis noch lange in der Schwebe sein. Der Entscheid wird spätestens Anfang Dezember fallen. Denn am 8. Dezember müssen die Bundesstaaten ihre Wahlmänner und -frauen bestimmt haben.
Sechs Tage darauf wählen die 538 Elektoren in den Bundesstaaten den Präsidenten offiziell. Ob aber mit der Vereidigung am 20. Januar 2021 wieder Ruhe ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einkehrt, steht in den Sternen.