Fussball ist seit je ein Teil ihres Lebens. «Ich bin mit vier Brüdern aufgewachsen, ein Ball war immer irgendwo in der Nähe», sagt Khalida Popal (37). Die Afghanin kam auf Einladung der Stiftung Coubertin meets Dunant in die Schweiz, um sich mit anderen Sportlerinnen und Sportlern auszutauschen. «Heute kann ich sagen: Fussball hat mich gerettet.»
Als kleines Mädchen fing Khalida an, mit ihren Brüdern in den Gassen vor ihrem Zuhause in Kabul zu kicken. «Ich war etwas bubenhaft, da fiel ich gar nicht so auf.» Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, floh ihre Familie nach Pakistan. «Im Flüchtlingslager war der Sport oft meine einzige Freude.»
Nach dem Fall der Taliban 2001 dribbelte Khalida den Ball wieder in ihrer Heimat durch die Strassen. Doch je älter sie wurde, umso kritischer wurden die Blicke und schärfer die Zungen der Nachbarn. «Sie beschimpften meine Brüder, dass sie keine richtigen Männer seien, solange ich draussen rumrenne. Ich solle in der Küche Geschirr spülen.» Schnell wurde klar, Khalida kann nicht mehr mit ihren Brüdern mitspielen. Doch aufhören war auch keine Option. «Dafür hatte ich einen zu sturen Kopf.»
Sie suchte in der Schule andere Mädchen, die Fussball spielen wollten. «Ich hatte keine Ahnung, ob sich überhaupt jemand meldet.» Doch schnell waren zwei Mannschaften zusammen. Auf dem Pausenhof flog der Stoff ihrer Hidschabs beim Rennen im Wind, Gelächter schallte durch den Hof. «Wir hatten Spass. Und damals hatten viele Mädchen vergessen, was Spass ist.» Auf dem Platz durften sie das erste Mal selber entscheiden. Den Ball passen? Schiessen? Nach links oder nach rechts? «Wir hatten beim Kicken die Kontrolle.»
Bei Anpfiff Terror
Damals, Anfang der Nullerjahre, waren die Taliban zwar nicht mehr an der Macht, doch ihr Hass hatte tiefe Wurzeln in der Gesellschaft geschlagen. Khalida und ihre Kolleginnen wurden als Huren bezeichnet, mit Steinen beworfen und angespuckt. Man riss ihnen die Schultaschen aus den Händen, leerte den Inhalt auf den Boden. Und das nur weil sie Fussball spielten. «Als junge Frau in Afghanistan gehört Gewalt zum Alltag.»
Aber wenn Khalida nach Hause ging und die Tür zur Aussenwelt schloss, blieb der Hass draussen. «Mein Vater und meine Brüder haben mir nie etwas verboten. Sie zwangen mich nicht, zu heiraten oder mit dem Sport aufzuhören.» Die meisten anderen Mädchen aber gingen nach Hause zu Männern, die sie halb tot prügelten. Viele von ihnen spielten darum heimlich, einige hörten auf. Aus dem Spiel war längst ein Kampf ums Überleben geworden.
Dann, 2007, wurde Khalidas Team vom afghanischen Fussballverband als Frauennationalmannschaft anerkannt und Khalida zum Captain ernannt! «Es war eine grosse Ehre, mein Land vertreten zu dürfen, aber es ist eine noch grössere Ehre, Vorbild für Tausende junger Mädchen in Afghanistan zu sein», sagt sie.
Als ihr Team beim ersten Länderspiel mit einem afghanischen Trikot auf dem Feld stand, war Khalida überglücklich und stolz. «Es war fantasisch. Eine ganze Nation hatte uns gesagt, wir seien nichts wert, wir gehörten in die Küche. In diesem Moment wusste ich, dass ich alles erreichen kann.» Sie verloren 0:13 gegen Nepal – aber das war egal.
Khalida ist inzwischen das Gesicht des Frauenfussballs in ihrer Heimat. 2011 wird sie gar als Finanzdirektorin die erste vom afghanischen Fussballverband angestellte Frau. Trotzdem kritisiert sie im Fernsehen die mangelnde Unterstützung und die korrupten Sportfunktionäre. Das zieht schlimme Konsequenzen nach sich.
«Je lauter ich wurde, desto kleiner wurde meine Freiheit.» Khalida wird verfolgt, ihr wird mit Vergewaltigung gedroht. Ein Lastwagen rast in ihr Auto. Männer schiessen durch das Fenster. Khalida kann unverletzt im Verkehrschaos flüchten. Doch sie weiss jetzt, sie muss untertauchen. Mehrmals ändert sie ihre Telefonnummer und ihr Hotel, doch es wird nur schlimmer. Sie und ihre Familie bekommen Todesdrohungen. «Das hat mich fertiggemacht.»
Über Nacht flieht sie aus Afghanistan – ohne zu packen, ohne sich zu verabschieden. Sie landet in Indien, schläft auf dem Boden. 2016 erreicht sie Dänemark. Sie lebt zunächst ein Jahr in einem Flüchtlingsheim, umzingelt von Stacheldraht. In Afghanistan wird einer ihrer Brüder getötet. «Es ging mir sehr schlecht.» Sie fällt in eine Depression, denkt daran, ihr Leben zu beenden. «Ich hatte alles verloren: mein Land, meine Familie, meine Identität.» Doch dann fängt sie an, mit anderen Geflüchteten zu trainieren – und findet durch den Fussball wieder ihren Lebenssinn.
Der Horror kehrt zurück
Nach zwei Jahrzehnten erobern die Taliban 2021 erneut die Kontrolle über Afghanistan. Mehr als 20 Millionen Frauen verlieren alles: ihre Rechte, ihre Freiheit, ihre Träume und ihr Gesicht. Sie können das Haus nicht mehr ohne Begleitung eines Mannes verlassen und dürfen nach der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen.
«Ich habe so viele verzweifelte Nachrichten von Freundinnen erhalten», sagt Khalida. In den vergangenen drei Jahren gelingt es ihr, mit ihrem Netzwerk und Behörden aus sechs Ländern über 500 Spielerinnen und deren Familien aus Afghanistan zu evakuieren. Das Frauen-Nationalteam lebt heute in Australien. Internationale Turniere dürfen die Frauen nicht absolvieren. Der Weltfussballverband darf ein Nationalteam erst anerkennen, wenn dies der nationale Verband getan hat. Das wird nicht geschehen, solange die Taliban an der Macht sind.
Khalida kämpft bis heute für ihre Freundinnen. «Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, irgendwann wie- der in Freiheit mit ihnen Fussball zu spielen.»
Die gemeinnützige Stiftung Coubertin meets Dunant setzt sich seit 2022 für den sportlichen Dialog zwischen jungen Athletinnen und Athleten aus verschiedenen Kulturen ein. Dazu hat die Stiftung 27 Sportlerinnen und Sportler aus Afghanistan, Iran, Hongkong, China und Südkorea zum zweiwöchigen United Summer Camp 2024 mit Stationen in Winterthur ZH, Kreuzlingen SH und Tenero TI eingeladen. «Wenn sie in ihrer Heimat die grenzüberschreitende Sprache des Sports weiterpflegen, ist das unser kleiner Beitrag zur Völkerverständigung», sagt Programmleiter Christoph Burkart.