Etwas wurde Ernst Renggli (85) im September 1970 klar: «Wenn ich das überlebe, wird das mein Leben verändern.» Mehr als 53 Jahre später sitzt er zu Hause in Baar ZG in seiner Küche. Er hat das Grauen von damals überlebt! Auf dem Tisch vor ihm eine Kiste mit alten Dokumenten und Zeitungsartikeln – alles zum 6. September 1970.
Plötzlich hatte er einen Revolver im Gesicht
An diesem Tag sollte der Entlebucher aus dem Kanton Luzern als Purser mit einer voll besetzten DC-8 der Swissair von Zürich nach New York fliegen. Doch es kommt anders auf Flug SR100: «In der ersten Klasse sass in der hintersten Reihe ein Paar, elegant angezogen. Ich dachte, die fliegen in die Flitterwochen, und bot ihnen Champagner an. Doch sie wollten nur Orangensaft und waren auffällig still.» Der Mann und die Frau entpuppen sich als Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Als der Mann eine Stewardess festhält, will ihr Ernst Renggli zu Hilfe eilen.
Plötzlich hält ihm der Mann einen Revolver vors Gesicht, die Frau reckt ihre Hände mit zwei entsicherten Handgranaten in die Luft. «Ich wusste sofort: Wir werden entführt.» Ab da muss die Crew den Befehlen der Hijacker gehorchen. Die Entführerin gibt via Lautsprecher bekannt, dass den Passagieren nichts passiere, wenn sie sich ruhig verhielten. «Sie sagte, wir fliegen in ein freundliches Land mit freundlichen Menschen.»
Statt in die USA nimmt das Flugzeug mit 143 Passagieren und 12 Besatzungsmitgliedern Kurs Richtung Osten. Es wird dunkel. «Aus dem Fenster erkannte ich irgendwann Beirut und Damaskus.» Als der Flieger zur Landung ansetzt, sind sie in Jordanien, 60 Kilometer nordöstlich von Amman in der Wüste bei Zerqa. Vor ihnen steht eine bereits entführte Boeing 707 der amerikanischen TWA. «Draussen hörte ich Maschinengewehre rattern und Männer jubeln.»
Von Mutter zu Mutter
Für Brigitta Moser-Harder, heute 80, ist es der erste Flug nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter. Die Stewardess fliegt zu jener Zeit jeweils temporär nur an Wochenenden. Dann, wenn sich ihr Mann um die Töchter kümmern kann, von denen die ältere vierjährig und die jüngere gerade sechs Monate alt ist. «Für mich war das eine schwierige Situation», erinnert sich Moser-Harder. So habe sie damals unter anderem mit einer der Entführerinnen – ebenfalls eine zweifache Mutter – gesprochen und ihr gesagt, dass sie ablehne, was sie da tue. Die Antwort der Geiselnehmerin habe sie nachdenklich gestimmt. «Sie sagte: ‹Wir kämpfen seit Jahren erfolglos für ein eigenes Heimatland. Wenn du nicht etwas Spektakuläres machst, hört dir keiner zu!›»
Moser-Harder kümmert sich in den ersten Stunden der Entführung vor allem um die Kinder an Bord. «Obwohl ich natürlich an meine beiden Töchter dachte, war ich in dieser Situation professionell gefordert. Nach der Landung in der jordanischen Wüste darf die Stewardess mit den kleinen Passagieren sogar einen kurzen Spaziergang machen. «Natürlich wurden wir dabei von Kalaschnikows begleitet.»
Als kurz darauf Frauen und Kinder von den Entführern in ein Hotel nach Amman verfrachtet werden, entscheiden Moser-Harder und ihre Kolleginnen, bei den männlichen Geiseln und der Cockpitbesatzung zu bleiben. «Wir hätten gehen dürfen, fanden aber: Wir bleiben zusammen!»
Zähneputzen mit Champagner
Die Entführer stellen ein Ultimatum. Entweder lässt die Schweiz drei palästinensische Gefangene frei oder sie jagen die Flugzeuge mitsamt Geiseln in die Luft. Die Regierungen der betroffenen Länder inklusive Bundesrat schalten sich ein. Währenddessen ist das Ausharren in der Wüste hart. Am Tag brennt die Sonne auf das Blechdach, in der Nacht kühlts in der Kabine extrem ab. Wasser und Essen werden knapp. Anfangs glaubt Stewardess Beta Steinegger, heute 89, noch, dass der Spuk nach spätestens 48 Stunden ein Ende haben wird.
Tatsächlich wird eine Woche vergehen, bis sie wieder in Freiheit ist. In der Zwischenzeit versucht sie, es den an Bord verbliebenen Passagieren, so gut es geht, zur Seite zu stehen. Sie putzt Toiletten, verteilt abends kleine Fläschchen Cognac und Whisky als «Bettmümpfeli». Ihre Zähne putzt sie mit Champagner, da es an Bord kein Wasser mehr gibt. Fühlt sich die Tessinerin unbeobachtet, schreibt sie auf dünnem Luftpost-Briefpapier das Erlebte nieder und versteckt es in ihrer Tasche. «Wenn es die Entführer in die Hände bekommen hätten, weiss ich nicht, was passiert wäre.»
Mit dem Allerschlimmsten rechnet Steinegger in einer Nacht, als Gerüchte die Runde machen, die Entführer könnten angegriffen werden. «Unser Captain briefte uns, wie wir die 50 bis 60 Passagiere binnen 30 Sekunden aus dem Flugzeug bringen könnten.» Zu dem Zeitpunkt funktioniert nur noch eine Notrutsche – und diese auch nur, wenn sich zuvor zwei Stewards hinunterhangeln und sie festhalten. «In dieser Nacht schrieb ich einen Abschiedsbrief an meine Eltern», sagt Beta Steinegger. Sie hat ihn bis heute aufgehoben.
Ein neues Leben
An einem Tag kommen die Terroristen auf Ernst Renggli zu. Sie haben eine Passagierliste und zwingen den Purser, alle Juden und Israelis aus der Kabine zu holen. «Das war schrecklich!», sagt er. Er hält sich die Hände vor dem Kopf. «Ich wusste ja nicht, ob sie sie erschiessen.» Er hält inne, Tränen füllen seine Augen. «Ich bin mir vorgekommen wie ein Sauhund. Das lässt mich nicht mehr los.» Letztlich aber überleben alle Passagiere das Geiseldrama.
Am Dienstag, 8. September, landet ein drittes Flugzeug in der Wüste. Die Terroristen bringen an den geräumten Maschinen Dynamit an und sprengen sie am 12. September. Schliesslich kommen Passagiere und Crew frei. Die drei in der Schweiz einsitzenden Terroristen werden später ausgeliefert.
Als Ernst Renggli in die Schweiz zurückkehrt, geht er in seine Wohnung in Kloten. «Ich rief meine Mutter an und sagte, dass ich wieder da bin. Dann brach ich zusammen.» Er bekommt sieben Tage lang eine Kalziumspritze vom Arzt, nach einer Woche fliegt er wieder.
Ernst Renggli fliegt noch einige Jahre, geht später in die USA. 2001 steigt er in die Entwicklungshilfe ein. «Ich arbeitete teilweise an den gefährlichsten Orten der Welt, wo niemand sein wollte», sagt er. «Weil ich nach Zerqa keine Angst mehr kannte. Das überrascht mich im Rückblick selber.»