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Freeski-Ass Andri Ragettli

«Als Freestyler hat mich niemand ernst genommen»

Seine verrückten Videos begeistern Millionen von Menschen. Nun will Free­skier Andri Ragettli an der Heim-WM die Schweiz entzücken. Hinter ihm liegt eine schwierige ­Kindheit. Jahrelang wurde der Bündner belächelt.

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Freeskier Andri Ragettli posiert mit WM-Gold im Familienhaus in Flims GR. Dort lebt er mit Mutter Bea. Sein Vater starb, als er ein Kind war.

Freeskier Andri Ragettli posiert mit WM-Gold im Familienhaus in Flims GR. Dort lebt er mit Mutter Bea. Sein Vater starb, als er ein Kind war.

Benjamin Soland

Noch bevor Andri Ragettli (26) den Satz zu Ende sagt, blickt er zu seiner Schwester. Christina (32) sitzt in einer Ecke des Wohnzimmers des Ragettli-Familienhauses in Flims GR. Sie kümmert sich um die PR-Arbeit des Freestyle-Superstars und Social-Media-Königs. «Chris», wie er seine Schwester nennt, «ist jeweils sehr kritisch, weil sie mein Image nicht gefährden will», sagt Ragettli.

Mittlerweile hat er über 650'000 Follower auf Instagram. Seine Parcours-Videos wurden millionenfach angeschaut. Ein falscher Satz kann einen riesigen Shitstorm auslösen. Entsprechend genau hört Christina zu. Leise verkündet Andri Ragettli: «Ja, ich bin Millionär.» Etwas macht ihn dabei ganz besonders stolz. «Ich habe gezeigt, dass man auch als Athlet aus einer Randsportart gut Geld verdienen kann.» Wie er das geschafft hat? «Durch harte Arbeit. Es braucht viel, um im Freestyle-Sport und auf Social Media sehr gut zu sein. Dank dieser Kombination bin ich für Sponsoren so interessant.»

Passt dieser Sponsor oder nicht? Schwester Christina berät ihren Bruder Andri bei PR-Fragen. Dabei sind sie nicht immer gleicher Meinung.

Passt dieser Sponsor oder nicht? Schwester Christina berät ihren Bruder Andri bei PR-Fragen. Dabei sind sie nicht immer gleicher Meinung.

Benjamin Soland

Schwester erstellte erste Fanpage

2021 wurde Ragettli Weltmeister im Slopestyle. Dreimal triumphierte der Bündner an den X-Games. In diesen Tagen will er an der Heim-WM im Engadin (bis 30. März) für Furore sorgen. Die nötige Energie dafür holt er sich zu Hause bei seiner Mutter. «Sie kocht mir jeweils mein Lieblingsessen – die Bündner Spezialität Pizokel.» Als einziges von drei Kindern lebt Ragettli noch immer zu Hause. «Bevor ich 30 Jahre alt bin, möchte ich schon ausziehen», sagt er schmunzelnd. Doch da er ständig unterwegs sei, würde sich eine eigene Wohnung momentan nicht lohnen. Ziemlich sicher zieht er eines Tages in ein Haus neben dem Anwesen seiner Mutter. «Hier habe ich ein Stück Land gekauft», sagt Ragettli und zeigt aus dem Fenster auf eine Wiese. Gedanken, was da dereinst genau stehen soll, hat er sich noch nicht gemacht.

Sein mögliches Traumhaus ist dann auch schnell vergessen, als plötzlich einer seiner besten Freunde auftaucht. «Da bist du ja endlich», begrüsst Ragettli Kater Simba und nimmt ihn auf den Arm. Den Namen haben ihm Ragettlis Fans gegeben. Er hat sie auf Instagram darüber abstimmen lassen. «Seit meiner Kindheit liebe ich Katzen. Simba fehlt mir jeweils sehr, wenn ich weg bin.» Am Abend vor einem Wettkampf schickt ihm seine Mutter manchmal ein Foto von seinem schlafenden Lieblingskater. «Wenn ich ihn so zufrieden sehe, beruhigt mich das.» Auch in den sozialen Medien tauchen immer wieder Schnappschüsse von Simba auf, die tausendfach gelikt werden.

Schwester Christina übergibt Andri seinen Kater Simba. Dieser starrt auf das Blitzlicht des Fotografen.

Schwester Christina übergibt Andri seinen Kater Simba. Dieser starrt auf das Blitzlicht des Fotografen.

Benjamin Soland

Dass Ragettli einmal so viele Menschen erreichen würde, hätte auch seine Schwester nicht gedacht, als sie seine Internetkarriere startete. «Als er ungefähr zehn Jahre alt war, haben wir die erste Fanpage auf Facebook erstellt», erinnert sich Christina. Ihr Bruder wusste nichts davon. «Wer hat diese Fanpage von mir gemacht?», fragte er eines Tages überrascht. Dass Christina einst seine PR-Managerin werden würde, war genauso wenig geplant. «Eine der ersten Interviewanfragen kam auf Englisch. Da meine Mutter und ich die Sprache damals nicht gut beherrschten – ich war ja noch ein Kind –, musste Chris aushelfen.» Seither arbeitet sie eng mit ihrem jüngeren Bruder zusammen.

Auch mit der deutschen Sprache tat sich Ragettli schwer. «Da half alles Lernen nichts», sagt er lachend. Beim ersten Diktat in seinem ersten Gymnasiumsjahr erhielt er die Note 1,75. Besonders unangenehm war es für ihn, wenn er vor der ganzen Klasse einen Text vorlesen musste. Einmal sagte die Lehrerin zu ihm: «Andri, wir sind hier im Obergymnasium, und du kannst immer noch nicht richtig lesen!»

Solche Aussagen motivierten ihn zusätzlich. Im Maturazeugnis erreichte er im Deutsch die Note 4. Ansonsten hatte Ragettli sehr gute Noten. «Ich war es gewohnt, belächelt zu werden. Als Freeskier hat mich zu Beginn niemand ernst genommen. Alle dachten, ich springe nur ein bisschen auf dem Trampolin herum.»

«Zum Glück macht ihr nur ein Bild, und ich muss euch nichts vorlesen», sagt Ragettli lachend. Deutsch war in der Schule sein mit Abstand schwächstes Fach.

«Zum Glück macht ihr nur ein Bild, und ich muss euch nichts vorlesen», sagt Ragettli lachend. Deutsch war in der Schule sein mit Abstand schwächstes Fach.

Benjamin Soland

Die «lahme Ente» ist bereit

Inzwischen sind die Kritiker verstummt. Einige sind zu Fans geworden und bewundern ihn. In dieser Saison flog Ragettli sechsmal unter die besten fünf. An der WM in St. Moritz gehört er zu den grössten Medaillenhoffnungen der Schweiz. «Ich will erneut Weltmeister werden. Es ist ein schwieriger Kurs, das kommt mir entgegen.» Mit dabei ist auch Schwester Christina. Früher hat sie ihren jüngeren Bruder auf der Piste als «lahme Ente» bezeichnet. «Ich nervte mich jeweils, dass wir Andri mitnehmen mussten. Er war viel zu langsam!» Inzwischen fährt und springt er ihr wie den meisten Konkurrenten um die Ohren. Im Engadin wird Christina aber nicht nur seine Sprünge bewundern, sondern auch bei den Interviews ganz genau zuhören.

Von Nicola Abt am 24. März 2025 - 06:00 Uhr