Würde man den jungen Mann, der in Zürich einen orthodoxen Juden niedergestochen hat, fragen, ob er Antisemit sei, würde er dies vermutlich voller Eifer bestätigen. Einen Hinweis darauf gibt der Titel, den er sich selbst verliehen hat: «Ahmed, der Schlächter, Soldat des Kalifats». Oder die Tatsache, dass er am Tatort verkündet hatte, es sei seine Aufgabe, «alle Juden zu töten».
Wollte man weitere Leute finden, die zu ihrem Antisemitismus stehen, dürfte das schwierig werden. Am Hauptbahnhof hat jemand mit Kreide «Israel begeht Genozid» auf den Boden gekritzelt. An der Zypressenstrasse hat jemand «From the river to the sea» an eine Hausmauer gesprüht. Am Stauffacher hat jemand einen Sticker an eine Ampel geklebt, auf dem «Zionismus nein danke» steht. Die Urheber würden den Vorwurf der Judenfeindlichkeit gewiss empört von sich weisen – so wie es praktisch alle tun, die judenfeindliche Dinge sagen.
Warum diese Parolen judenfeindlich seien, fragen Sie? Nun, es sind alles Synonyme zu «Die Juden sind unser Unglück». Es sind Sätze, die auf verzerrte, bösartige Weise Partei beziehen, Israel als Unrechtsstaat diffamieren und dem Land das Existenzrecht absprechen. Wer keine antisemitischen Ressentiments hat, redet nicht so. Und nimmt erst recht keine Sprühdose in die Hand. Das ist der entlarvende Umkehrschluss.
Natürlich gibt es an Israel einiges zu kritisieren. Aber meist ist es eben keine Kritik, was sich an der mangelnden Sachlichkeit erkennen lässt. Konkret an der zwanghaften Gleichsetzung zwischen Israel, sämtlichen Juden der Welt und jenem, der gerade vor einem steht. Was ich mir persönlich in meinen 50 Jahren schon an niederträchtigen Pauschalisierungen, Unterstellungen und Stereotypen anhören musste, von gebildeten, klugen und meist linken Menschen, nur weil ich Jude bin, war und ist unerträglich.
Ich erinnere mich an exakt vier davon, die auf meinen Hinweis, sie hätten etwas Antisemitisches gesagt, in der einzig richtigen Weise reagierten: Sie sagten, dass es ihnen leidtue. Alle anderen – mehrere hundert! – ergingen sich in Erklärungen, warum sie keinesfalls Antisemiten seien, es vielmehr «rassistisch» von mir sei, so was zu behaupten, und dass «ihr» (die Juden) euch nicht über den Antisemitismus zu wundern braucht.
Woher kommt Antisemitismus?
Das ist die klassisch antisemitische Erzählung: Wenn Jüdinnen und Juden etwas zustösst, ist das vielleicht schlimm, aber letztlich nur eine Reaktion auf die legendäre jüdische Schlechtigkeit. So klang es bereits am 8. Oktober, am Tag nach dem Überfall der Hamas: Israel ist selber schuld. Und so klang es nun in den sozialen Medien, in denen der Attentäter viel Zuspruch erhielt. «Einige loben die Tat, andere hoffen auf eine baldige Freilassung des jungen Zürchers», schreibt «20 Minuten».
Nun kann man das alles exklusiv unter islamistischem Terror und dessen Gefolgschaft verbuchen, so wie SVP-Kantonsrat Tobias Weidmann es getan hat: «Antisemitismus 2024 kommt nicht von rechts, sondern von der antikapitalistischen Linken oder aus migrantischen Milieus.»
Es hilft auch nicht, wenn Justizminister Beat Jans sagt, in der Schweiz werde keine Form von Antisemitismus akzeptiert. Oder wenn Stadtpräsidentin Corine Mauch sagt: «Antisemitismus hat in unserer Stadt keinen Platz.»
Denn in der Schweiz wird Antisemitismus sehr wohl akzeptiert. Und er hat in Zürich und auch anderswo Platz. Leider.
Natürlich müssen wir nun darüber reden, wie der Attentäter sich so radikalisieren konnte. Wie es sein kann, dass jemand, der hier lebt, sich derart von den hiesigen Werten abkehren kann.
Wir müssen aber genauso darüber reden, dass die hiesigen Werte auch für Nichtmuslime rein fakultativ sind. Es ist so einfach, von Toleranz zu reden. Und zu behaupten, man sei kein Antisemit. Und man habe nichts gegen Menschen, die anders lieben.
Das Attentat wurde von einem Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt. Das zugrunde liegende Problem liegt aber nicht im Ausland. Es liegt mitten unter uns, an jeder Ecke.
Thomas Meyer ist Schriftsteller, Drehbuchautor – und laut eigener Aussage «jüdisch, aber nicht religiös».