Als Astrid von Stockar vor 25 Jahren ihren neugeborenen Sohn in den Armen hält, geht ihr ein Gedanke durch den Kopf: «Mein Kind ist weder mein Eigentum noch meine Berufung.» Einen Monat nach der Geburt des kleinen Eric steht sie wieder im SRF-Studio, ihrem Arbeitsort. Ob sich eine gute Mutter so verhält, diese Frage ist Astrid von Stockar nie in den Sinn gekommen.
Reisesendungen fürs SRF
Wir sind zu Besuch am Zürichberg, wo die Häuser Abstand zueinander halten. Im Innern der Villa aus dem Jahr 1925 klappern Schuhe über den Holzboden. «Das ist das Geräusch meiner Kindheit», sagt Louise, 24. Ihre Mutter Astrid, 52, eilt von einem Raum zum anderen. Louise und Eric sind im Wohnzimmer parat fürs Fotoshooting. Labrador Jago, 4, hat sich zu ihnen gesellt und ein paar seiner schwarzen Haare am weissen Sofa abgestreift. Da kommt Astrid von Stockar in den Raum und fragt den Fotografen: «Was ist die Szene hier?»
Über 20 Jahre hat sie selber gedreht und gestaltet. Sie war Journalistin und Produzentin beim SRF, arbeitete für den «Club», «Aeschbacher», die Reisesendungen «Traumziel» und «einfachluxuriös». Sie sah über 30 Länder und ging auch auf Reisen, als ihre Kinder noch klein waren.
Ein Schloss im Thurgau
Dabei hätte von Stockar zu Hause bleiben können. Ihr damaliger Mann und Vater der beiden Kinder ist Daniel Marc von Stockar-Scherer-Castell, Besitzer eines Schlosses in Tägerwilen TG und einer erfolgreichen IT-Firma namens Softwareone. «Wir lernten uns während des Wirtschaftsstudiums kennen», erzählt Astrid von Stockar. Das Paar war 21 Jahre zusammen, zog in die Villa und pflanzte für Sohn und Tochter je einen Baum im Garten. «Meine Kinder sind fantastisch, doch ein Leben ohne Job kann ich mir nicht vorstellen», sagt von Stockar.
«Statt Botox zu spritzen, bin ich Chefin geworden – das hält jung.»
Astrid von Stockar
Eric macht gerade einen Master in Business Analytics in Madrid, Louise studiert Wirtschaftspsychologie in Wien. Wie war es für die Kinder, dass ihre Mutter keine Hausfrau ist?
«Das macht selbstständig»
«Unsere Eltern folgen ihren Passionen», sagt Eric, «sie haben uns vermittelt, wie wichtig das ist.» Obwohl Eric und Louise mit 15 in ein englisches Internat gingen und zu Hause oft von schwedischen Au-pairs betreut wurden, empfanden sie ihre Mutter nicht als abwesend. «Wir haben uns wohl mehr als andere Kinder gefreut, wenn sie da war», so Eric. «Wir wussten, dass wir immer zu ihr gehen können», sagt Louise, «aber erst mussten wir überlegen, ob wir überhaupt ein Problem haben – das macht sehr selbstständig.»
Passion und Selbstständigkeit – beides ist bei Astrid von Stockar derzeit aktuell. Sie ist seit fünf Jahren Chefin des Zahnpastaherstellers Swissdent. Wie kam sie dazu? «Statt Botox zu spritzen, bin ich Unternehmerin geworden – das hält genauso jung!» In der Schweiz werde man ja kritisch beäugt, wenn man etwas Neues wage, sagt sie. Wir sitzen am grossen Esstisch und trinken Kaffee, das Täfer an der Wand ist ochsenblutrot gestrichen. Eine Hommage an Schweden, die Heimat ihrer Mutter. «Dort ist es normal, ab und zu Neues zu machen.»
«Was an anderen Frauen aufregt»
2010 lernte sie den Zahnarzt Vaclav Velkoborsky, den Gründer von Swissdent, bei einer Party kennen. Als Ende 2016 eine neue Führung für die Firma gesucht wurde, tat sie das, was sie an anderen Frauen immer aufgeregt hatte. «Ich hinterfragte sofort, ob ich das überhaupt kann.» Früher fand sie als Produzentin des «Club» kaum Expertinnen, die sich ins Fernsehen trauten. «Und jetzt stand ich selbst vor einer solchen Schwelle. Ich sagte zu – und bluffte im ersten Jahr wie ein Mann!»
Heute hat Swissdent acht Mitarbeitende, davon «ein Quotenmann». Von Stockar las sich in «Oral Care» ein, hantiert nicht mehr mit Drehorten und Abschlusszeiten, sondern mit Verpackungsmaterial und Patenten. «Unsere Zahnpasten hellen die Zähne auf, sind dabei aber sehr schonend», betont sie. Von Stockar übernahm Ende 2019 die Mehrheit der Firma und expandierte in 40 Länder. Wenn sie sieht, dass der Absatz steigt, freut sie das «wie früher, wenn die Idee für eine Sendung gut funktioniert».
Die Kaffeetasse ist leer, von Stockar verschwindet kurz, um den Mund mit Wasser zu spülen. Auch Eric und Louise sind auf dem Sprung. Dass die ganze Familie zusammenkommt, gibt es nicht oft. Zu ihr gehören seit 13 Jahren auch von Stockars Partner, Clemens Gregor, und dessen Kinder.
Worte der Grossmutter
«Ich bereue nicht, wie ich es gemacht habe», sagt Astrid von Stockar. «Klar hatte ich oft Mama-Schmerz, weil ich die Kinder vermisste. Und andere Mütter haben wohl auch manchmal über mich gelästert.» Doch Astrid von Stockar, scheint es, zieht ihr Ding durch. Ist ihr Schönheit besonders wichtig, oder wieso wurde sie von der Journalistin zur Zahnpastaexpertin?
Sie antwortet mit einer Anekdote aus ihrer Kindheit. «Als ich drei oder vier war, sagte meine Grossmutter mir etwas Wichtiges. ‹Du wirst nie die Schönste sein›, erklärte sie mir. ‹Aber du solltest auch mit einem Kartoffelsack über dem Kopf verführen können – weil du lustig, unterhaltsam und neugierig auf Neues bist.› Und daran», sagt von Stockar, «halte ich mich bis heute.»