Das kleine sizilianische Geschäft Saveurs d’Italie im Genfer Quartier Plainpalais ist seit zehn Jahren das Stammlokal von Joël Dicker, 34. Dreimal die Woche kommt er hierher. «Manchmal auch mehr», gesteht der Bestsellerautor lachend, als er sich an den langen Tisch inmitten einer riesigen Weinkollektion setzt. Doch für seinen Lieblingswein Pian delle Vigne 2013 ist es noch zu früh – Hausherr Salvatore Isgro bringt lieber Kaffee. Man spürt sofort: Hier fühlt sich Dicker zu Hause.
Joël Dicker, haben Sie heute Morgen schon geschrieben?
Klar, ich bin seit sechs Uhr früh auf! Das ist relativ spät für mich. Normalerweise stehe ich bereits um vier oder fünf Uhr auf. Ich bin an meinem nächsten Buch dran und mag die frühen Morgenstunden zum Schreiben.
Gibts einen genauen Plan, wie Sie beim Schreiben vorgehen?
Ich nehme mir die Freiheit, mich nicht zu beeilen und nicht den schnellsten Weg zu wählen, sondern mich ohne Einschränkungen zu bewegen. Ich spaziere in meinem Text herum, verliere mich, probiere Dinge aus.
Zum Beispiel?
Eine Version meines letzten Buches «Das Verschwinden der Stephanie Mailer» wurde 1200 Seiten lang. Als hätte ich für Freunde zu viel gekocht. Einfach aus lauter Freude am Kochen.
Und was wird aus den Resten?
Ich werfe alles weg. Das ist das Unschöne daran. Ich freue mich jedes Mal, etwas Neues zu beginnen. Und nicht im Gefrierfach nach alten Sachen zu greifen, daran zu riechen und zu denken, na ja, das ist nicht schlecht.
Wie starten Sie eine Geschichte?
Zuerst muss ich Lust haben, sie zu schreiben. Fehlt die Freude, ist es die Hölle. Dafür macht es zu viel Arbeit. Die Idee kommt erst danach. Dann entscheide ich, wo meine Geschichte beginnt – genau gleich, wie wenn ich joggen gehe, von wo ich loslaufe.
Haben Sie manchmal Zweifel?
Ich stelle mir immer wieder die Frage, ob es das wert ist. Früher, während meines Jurastudiums, habe ich fürs Schreiben viel Zeit mit meinen Freunden geopfert oder auf Ferien verzichtet. Heute ist es mein Beruf. Und ich muss mir sicher sein, dass ich das Richtige tue. Bei jedem Buch denke ich mir, das ist das letzte!
Nein!
Doch! Einerseits ist es genial und aufregend, anderseits wahnsinnig anstrengend und erschöpfend. Zu schreiben ist ein Nonstop-Job. Ich stehe mit meinem Buch auf, gehe mit meinem Buch schlafen und träume sogar davon.
Sprechen Sie mit jemandem darüber?
Mit meinem Therapeuten. (Lacht.) Nein, Scherz. Mit niemandem.
Wer bekommt Ihr Manuskript zu sehen?
Niemand liest mein Buch, bevor es fertig ist. Jene, die nur die Hälfte lesen und es mögen, wissen ja nicht, ob es genauso gut weitergeht. Und die, die nicht überzeugt sind, denken, vielleicht wirds ja noch besser. Dabei kann sich der Leser erst eine Meinung bilden, wenn er die letzte Seite gelesen und das Buch zugeschlagen hat.
Die Liebe zu Büchern wurde Dicker sozusagen in die Wiege gelegt. Seine Mutter ist Buchhändlerin, sein Vater Französischlehrer. Bereits als Zehnjähriger gründete er die Schülerzeitung «La Gazette des Animaux», ein Tiermagazin. Während seines Studiums schrieb er mehrere Bücher, doch kein Verleger wollte seine Arbeiten publizieren. Dicker blieb hartnäckig, schrieb noch fleissiger, bis ihm mit dem Roman «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» der Durchbruch gelingt.
Erinnern Sie sich noch an den Tag, als Sie die positive Nachricht erhalten haben?
Das werde ich nie vergessen. Es war im August 2011. Ein unglaubliches Gefühl! Jedes Mal, wenn meine Bücher abgelehnt wurden, war ich sehr enttäuscht. Jetzt weiss ich, dass es eine notwendige Erfahrung war.
Wieso?
Heute verstehe ich viel besser, was ich tue. Genauso wie ich nicht mehr darüber nachdenken muss, beim Autofahren vor dem Schalten sanft die Kupplung zu drücken.
Mittlerweile lesen Menschen wie der ehemalige französische Präsident François Hollande Ihre Bücher.
Das fühlt sich komisch an. Wissen Sie, es gibt einen grossen Unterschied zwischen Joël, dem Autor, und dem Joël, der sich mit Herrn Hollande unterhält oder jetzt vor Ihnen sitzt.
Wie ist denn der Autor Joël?
Den bekommen Sie nicht zu sehen. Dann sitze ich in Shorts alleine am Tisch in meinem Büro, mit meinen Heftern, meinem Computer, viel Kaffee und schreibe …
Ihr Buch «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» wurde nun sogar verfilmt – mit Hollywood-Star Patrick Dempsey in der Hauptrolle.
Das ist schon beeindruckend. Ich wollte kein Mitspracherecht, aber plötzlich musste ich Fragen beantworten wie zum Beispiel: In welcher Farbe das Haus der Hauptfigur gestrichen ist. Keine Ahnung! Diese Vorstellung hatte ich bewusst dem Leser überlassen. Ein Bild oder ein Buch zu schaffen, sind eben zwei komplett verschiedene Dinge.
Bringt der Erfolg auch Druck mit sich?
Der Erfolg hat alles, aber auch nichts verändert. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wieso meine Bücher globalen Erfolg feiern. Das Einzige, was ich tun kann, ist zu schreiben, wie ich es schon immer getan habe. Da gibts nur mich und meinen Text.