Alle wollen ihn berühren, ihn halten, ihm einen «fliegenden Teppich» bereiten. «Hebet er mich?», versichert sich Stefan Buck, bevor er sich in die Menge stürzt. Tosender Jubel: «Jaaa!» Dann lässt der Frontmann der Schweizer Band Hecht sich von einem Podest mitten im Publikum fallen, und während er liegend den Superhit «Kawasaki» singt, wird er auf einem «Laufband» von Fanhänden in Richtung Hauptbühne weitergereicht. Kurz darauf steht er wieder am Bühnenrand, macht Selfies mit Fans und schmettert zusammen mit Zehntausenden von grölenden Kehlen den Refrain: «Uf mim Grabstei muess din Name stah …»
Ein unglaublicher Kick
Fans so weit das Auge reicht. Das Gurtenfestival in Bern ist bereits am späten Freitagnachmittag restlos ausverkauft. Hecht live! Das darf man nicht verpassen! «Dieser Blick von der Bühne, die vielen verschiedenen Menschen, die dir zujubeln. Das gibt dir schon einen unglaublichen Kick!», sagt Stefan. Es gibt Tage, da fragen er und seine Bandkumpels sich, warum sie sich den ganzen Stress antun. Denn: «Es ist schon ein Riesenchrampf, braucht unheimlich viel Energie», so Buck. Aber Auftritte wie dieser geben ihnen immer wieder die Antwort: «Es ist einfach ein geiles Gefühl!»
Seit 27 Jahren ist Stefan Buck mit seinem Jugendfreund Christoph «Chrigel» Schröter als Musiker unterwegs. In Hochdorf LU haben sie als Sekschüler im Proberaum eines Kulturzentrums die Band Hecht gegründet. Elf Jahre später stossen Bassist Philipp «Phil» Morscher und Keyboarder Daniel «Gisi» Gisler dazu. Nochmals fünf Jahre später ergänzt Schlagzeuger Chris Filter die Band. Der Spass an der Musik und am Livespielen treibt sie an. Sie spüren: Ihre Art, Songs zu schreiben, Melodien zu finden und sie an Gigs live zu inszenieren, kommt bei den Leuten an. Stefan reisst mit seiner begeisternden Art das Publikum mit. Die Lieder sprechen die Sprache der Strasse: schnörkellos, fadegrad – und mit einem Wortmix aus Lozärner Dialekt und Züridütsch. Die meisten Mitglieder von Hecht wohnen heute dort. Die Songs gehen zuerst ins Ohr, dann in den Bauch – und schliesslich ins Gehirn. «Ich staune, dass die Fans unsere Texte, die zum Teil gar nicht so einfach sind, synchron mit perfektem Timing mitsingen», so der Hecht-Sänger.
Mit dem ÖV zum Konzert
Szenenwechsel. Stosszeit in der S3 der BLS von Bern HB nach Wabern. Hecht schnappen sich ein freies Abteil. Kaum jemand im Zug nimmt Notiz von ihnen. Nur ein paar Jugendliche spienzeln um die Ecke, machen scheu ein paar Fotos mit ihren Handys, tuscheln. Für andere Superstars ist die Grösse der Limousine ein Statussymbol. Hecht fahren mit dem ÖV an ihre Konzerte. «Weil es am praktischsten ist», sagt Phil. «Du musst keine Parkplätze suchen, und die Zugfahrt ist oft eine gute Gelegenheit, alles für den Auftritt noch einmal durchzusprechen.»
In der Schweiz kann das Leben von Rockstars so normal sein. Und Hecht sind wohl die grössten Normalos unter den Rockstars. «Rockstars? Eigent-lich fühlen wir uns gar nicht so», sagt Chrigel, «wir machen nicht Musik, um irgendeinem Image gerecht zu werden, sondern weil es uns einfach sehr viel Spass macht.» Jeden Auftritt sehen sie als ein neues Abenteuer. Jedes Mal sind sie nervös, wollen den vorigen Gig noch toppen. Ob das der Grund ist, warum die «Jungs», die alle die 40 überschritten haben, bei jedem Konzert so ausgelassen wirken, als lebten sie zum ersten Mal ihren Bubentraum?
«All die Menschen, die dir zujubeln. Das gibt dir schon einen unglaublichen Kick!»
Stefan Buck
Jeder hat noch einen «normalen» Job
Eine einzigartige Jugendfreundschaft schweisst die fünf zusammen. Sie hat schon damals gehalten, als Hecht noch für ein Taschengeld durch Provinzklubs tingelten. Nie hätten Stefan, Chrigel, Chris, Phil und Dani geglaubt, einst von der Musik leben zu können. Darum hat jeder von ihnen einen «normalen» Job. Bis heute! Buck arbeitet als Managing Partner bei einem Zürcher Fintech-Unternehmen. Schröter hat an der ETH Zürich Maschinenbau und Biomedizintechnik studiert, arbeitet in der Medizinbranche. Filter, gelernter Detailhandelsfachmann, ist Vertriebsleiter einer Firma für Audiosystemlösungen. Gisler, Master-Absolvent in Geografie, ist Berater und Programmierer für Lösungen mit künstlicher Intelligenz. Und Morscher arbeitet als Sekundarlehrer. Frage an ihn: Wie es ist so, als Rockstar vor der Klasse zu stehen? «Die meisten Schüler nehmen das gar nicht richtig wahr», sagt Phil. «Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand, der so etwas macht, daneben einfach Unterricht gibt. Werde ich danach gefragt, zeige ich ein Youtube-Video. Dann staunen sie und sagen: ‹Wow! Da ist ja richtig viel los!›.»
Musik ist für Hecht ein Spassprojekt – und soll es auch bleiben. «Finanziell nicht vom Erfolg der Musik abhängig zu sein, gibt uns sehr viel Freiheit», sagt Stefan. «Wir können bei Hecht wirklich machen, was wir wollen. Niemand redet uns da drein. Keine Plattenfirma, kein Management, keine Sponsoren – auch die Medien nicht.»
Privates wird geschützt. Denn seit den Anfängen der Band sind nicht weniger als zehn Hecht-Kinder auf die Welt gekommen, die ihren Papis mindestens so viel Präsenz abverlangen wie diesen auf der Bühne das Publikum. Am Gurtenfestival tummeln sie sich, begleitet von ihren Mamis, im Backstagebereich und schlecken Glaces vom Künstlercatering. «Alle reden immer von unserem Erfolg», sagt Phil. «Aber ohne unsere Partnerinnen, die immer zu uns halten und unsere Ups und Downs mitmachen, wäre all das nicht möglich.»
«Finanziell nicht vom Erfolg der Musik abhängig zu sein, gibt uns sehr viel Freiheit»
Stefan Buck
Die Leere nach dem Gig
Menschenmassen und Einsamkeit, Getöse und Stille liegen nahe beieinander im Leben von Rockstars. Auch bei Hecht. Kurz vor dem Auftritt umarmen sich die fünf backstage und brüllen «Charlottaaa!» – der Titel ihres Kulthits wird zum Schlachtruf, der die Energie für die Bühne entfesselt. Ist nach dem Konzert der Applaus verhallt, kehren Stille und Müdigkeit ein. «Das ist dann fast wie eine Depression», sagt Stefan. «Dänn gömmer hei go brüele.» Gut, gehts dann nicht in ein Hotel mit einsamer Bar, sondern in ein gutbürgerliches Zuhause, wo Kinder und Partnerin noch einen Gutenachtkuss wollen. Am nächsten Morgen ruft wieder der ganz normale Alltag.