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50 Jahre Frauenstimmrecht

«Corona macht, dass wir uns jetzt als Gleiche begegnen»

Durch eine eidgenössische Abstimmung wurde 1971 in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. 50 Frauen blicken für die Schweizer Illustrierte zurück – und wagen einen Blick in die Zukunft. Heute: Schriftstellerin und Journalistin Simone Meier.

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Simone Meier

«Gerade wir Schweizerinnen sind den verschleierten Frauen näher, als uns das lieb sein kann»: Simone Meier.

André Wunstorf
Simone Meier

Ich stehe vor dem Spiegel und male mir einen Lidstrich. Einen schwarzen, mondänen mit einem kleinen Schlenker im Augenwinkel. Auf mich wartet zwar bloss die Migros, doch wenn die Maske schon mein halbes Gesicht verdeckt, soll die andere Hälfte dafür umso ausdrucksstärker sein.

In der Migros sehe ich, dass sich viele andere Frauen das Gleiche gedacht haben. Ihre Wimpern liegen als sorgfältig gespreizte Fächer über selbstbewussten schwarzen Bögen, auf den Lidern schillert die heitere Zuversicht eines Sonnenaufgangs oder geheimnisvolle Landschaften. Und: Wir schauen einander alle in die schönen Augen. Doch nicht nur uns, sondern endlich auch den Frauen, die sich aus anderen Gründen gezwungen sehen, schon ihr Leben lang ihr Gesicht bis auf die Augen zu verhüllen. Und siehe da: Augenblicklich findet eine stille Verschwisterung statt.

Simone Meier
ZVG
Zur Person

Die 50-jährige Zürcher Schriftstellerin und Journalistin schreibt am liebsten über Fernsehen, Feminismus und alles Fleischliche. Sie arbeitet als Autorin beim Newsportal «watson». Am 16. Februar erscheint ihr neuer Roman – «Reiz» – bei Kein & Aber: Er kreist um die Frage, wie Liebe und Sexualität das Leben einer reifen Frau und eines sehr jungen Mannes prägen. Meiers Romane «Kuss» (2019) und «Fleisch» (2017) sind ebenfalls im Buchhandel erhältlich.

Corona macht, dass wir uns jetzt alle zuerst einmal als Fremde begegnen. Als Menschen, deren Gesichter sich schwer lesen lassen. Wir sehen nicht, ob unser Gegenüber lächelt oder grimmig blickt, ob sein Mund gelöst oder verkniffen ist. Aber die Augen, die sehen wir. Und mit unseren Blicken schlagen wir Brücken. Entwaffnen wir das Gegenüber. Schaffen wir Fremdheit aus der Welt. Corona macht also auch, dass wir uns jetzt als Gleiche begegnen. Und merken, dass wir keine Angst voreinander zu haben brauchen.

Ich träume davon, dass im März keine Schweizerin Ja zur sogenannten «Burka-Initiative» sagen wird, die einzig dazu da ist, das Fremde zu dämonisieren und Frauen, die sich verhüllen müssen, aus der Öffentlichkeit auszuschliessen. Und wenn wir dies endlich beigelegt haben, dann schauen wir unseren fremden Schwestern umso fester in die Augen und fragen sie, wie wir ihnen helfen können, dass auch sie irgendwann nach dem Ende von Corona ihr Gesicht zeigen können. Denn gerade wir Schweizerinnen sind den verschleierten Frauen näher, als uns das lieb sein kann. Wir, die wir erst seit 50 Jahren an der Demokratie teilhaben dürfen.

Von Simone Meier am 28. Januar 2021 - 11:45 Uhr