Die Brauerei Locher und ihr Patron Karl Locher (64) sind ein gutes Beispiel dafür, dass eine lange Geschichte nicht verstaubt sein muss. Das zeigt schon der Hauptsitz des Unternehmens mitten in Appenzell. Neben dem sanft renovierten Stammhaus, in dem Lochers Ururgrossvater schon 1886 Bier braute, steht das 2022 erweiterte Besucherzentrum mit Backsteinwänden und einem Bartresen aus Edelstahl. Dazu passt, dass Locher mit seinen 64 Jahren in Gedanken schon beim nächsten Biertrend ist – und sicher nicht bei der Pension. «Ich kann nicht ruhig hocken. Selbst in den Ferien brauche ich Programm», sagt der Vater eines Sohnes (19) und einer Tochter (17).
Bald neue Nummer 2 am Markt?
Jedes zehnte Bier in der Schweiz stammt heute aus der Produktion in Appenzell, darunter der Kassenschlager Quöllfrisch. Dieser Tage entscheidet sich, ob die Appenzeller bei der trendigen Brauerei Chopfab Boxer einsteigen. Die Firma aus Winterthur ist in finanzielle Schieflage geraten und hat um Hilfe gebeten. «Gelingt der Schuldenschnitt, ist für uns die Zusammenarbeit interessant. Mit ihren Bierspezialitäten würde Chopfab unser Portfolio gut ergänzen», sagt Geschäftsführer Aurèle Meyer (43). Damit könnten beide gemeinsam den Grosskonzern Heineken – hinter Feldschlösschen die Nummer 2 am Markt – überholen.
Grund genug, das Erfolgsrezept der Appenzeller unter die Lupe zu nehmen.
B wie Biss
Der Kampf ums Überleben der eigenen Firma – Karl Locher kennt ihn gut. Als er vor rund 30 Jahren den elterlichen Betrieb mit seinem Cousin übernimmt, arbeiten gerade mal zehn Leute in der Brauerei, fünf sind Familienmitglieder. Alle machen alles: Am Morgen das Bier filtrieren, am Nachmittag abfüllen, am Abend gehen sie zu den Kunden. «Die ersten drei Jahre habe ich sieben Tage die Woche von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends gearbeitet», erzählt der Patron. Mit einer 35-Stunden-Woche, wie sie heute propagiert werde, hätte die Brauerei nicht überlebt. Als 1992 das Bierkartell fällt, steht für ihn fest: «Wir müssen wachsen, und wir müssen es anders machen als die anderen.»
In der Produktionsanlage ist es warm, der süssliche Duft von Maische liegt in der Luft. «Das beste Bier macht die Natur, wir sind quasi die Hebammen», sagt Locher. Während am Stammsitz Spezialitätenbiere wie das Ginger Beer oder das Bschorle abgefüllt werden, läuft das Quöllfrisch in der 50'000 Quadratmeter grossen Halle am Dorfrand über die Anlagen.
I wie Innovation
Mit über 50 Biersorten, Whisky, Essig und Treberprodukten gehört die Brauerei Locher zu den innovativsten der Schweiz. «Andere haben grosse Marketingabteilungen – wir haben Karl», sagt Wegbegleiter, Verwaltungsrat und Infrastrukturverantwortlicher Hans Sonderegger (84) schmunzelnd. Locher, der das Brauen in England und Italien perfektionierte, prüft derweil die Würze des Biers. «Je mehr, desto höher der Alkoholgehalt – wobei der Trend definitiv bei weniger liegt.»
Noch heute stehen in der Brauerei Occasionsteile aus halb Europa. «Braumaschinen sind teuer, und wir hatten anfangs schlicht kein Geld», sagt Locher. Wie man die einzelnen Teile zusammenbaut, lernte der Chef beim Schweisserkurs. «Die Leute unterschätzen, was es braucht, um ein Unternehmen erfolgreich zu führen», sagt Locher. Er ist mit allen 200 Mitarbeitenden per Du. Für ihn seien die Zahlen nie im Vordergrund gestanden, sondern immer die Arbeit. Was bei anderen als Kokettieren rüberkommen würde – ihm nimmt man das ab.
E wie Eigenwilligkeit
Ein Feierabendbier gönnt sich Locher jeden Tag, am liebsten eins mit Weizen. «Ich bin gut damit gefahren, die Biere zu brauen, die mir selbst schmecken.» Selbst wenn zu Beginn alle die Nase rümpfen, wie etwa beim naturtrüben Quöllfrisch. «Die Leute beschwerten sich am Telefon: ‹Das Bier ist doch trüb!›» Acht Jahre und viele Autofahrten mit Harassen in die Städte brauchte es, um die Klientel vom heute beliebten Bügelbier zu überzeugen. Ausdauer braucht Locher auch für das erste Biobier auf dem Markt. Als er 1995 beim Grossverteiler Coop anklopft, winkt dieser ab. Ein Jahr später ruft Locher wieder an – und erntet erneut eine Absage. «Dann kam mit Hansueli Loosli ein Chef, der an Bio glaubte. Und 1997 rief Coop mich an», erzählt Locher mit einem spitzbübischen Lächeln.
R wie Ressourcenmanagement
Bis heute ist Nachhaltigkeit für Locher ein grosses Thema. «Lange stand Nachhaltigkeit für Verzicht, das ist nicht mehr so.» Während Aurèle Meyer seit fünf Jahren als Geschäftsleiter im Vordergrund steht, tüftelt Locher im Hintergrund an Lebensmitteln aus Biertreber, dem Nebenprodukt aus dem Brauprozess – von Chips über Pizza bis zu Ghacktem. «Ziel ist, dass wir bis 2025 alle Nebenprodukte zu Lebensmitteln verarbeiten.» Da passt es gut, dass Lochers Sohn eine Ausbildung zum Lebensmitteltechnologen absolviert. «Ich will nichts erzwingen», sagt Locher über eine sechste Firmengeneration. Zum Glück gehen ihm die Ideen noch lange nicht aus.