Guggisberg, hoch über dem Berner Mittelland. Scheinbar im Nirgendwo, aber trotzdem im Zentrum der Welt – oder zumindest der Eidgenossenschaft. Der Rundblick geht ins Freiburgische, zum Neuenburgersee – und ins Berner Oberland. Der Ort beheimatet 50 Menschen, den Gasthof Sternen und ein Bistro. Und über allem thronen das Guggershörnli und das Guggisberglied. Die musikalische Ode an Vreneli und ihre traurige Liebe gehört zum nationalen Kulturgut. Stephan Eicher verhalf ihr mit seiner Interpretation zu Weltruhm.
Der berühmteste Guggisberger steht indessen nicht auf der musikalischen Bühne, sondern mit beiden Füssen im Sägemehl. Fabian Staudenmann (23) ist der Mann der Stunden im Schwingen. Sieben Kranzfeste hat er dieses Jahr gewonnen, keinen einzigen Gang hat er verloren. Was er aber nicht zu hoch gewichten will: «Im Schwingen gehts um Punkte. Eine gute Niederlage kann gleich viel wert sein wie ein schlechter Gestellter.» Trotzdem: Am Wochenende gehörte der Kilchberg-Sieger von 2021 am Unspunnenfest in Interlaken BE zu den grossen Favoriten. Dieser alle sechs Jahre stattfindende Anlass repräsentiert das Schwingen vielleicht noch stärker als das Eidgenössische.
Druck als Wertschätzung
Über den mittlerweile gewachsenen Druck macht sich der gelernte Automatiker aber keine grossen Gedanken: «Natürlich lese ich auch Zeitungen und weiss, was geschrieben wird. Aber ich betrachte diesen Druck auch als Wertschätzung, die ich mir erarbeiten musste.» Er hat in den vergangenen Jahren gelernt, die Dinge rational zu betrachten: «Energie will ich nur für die Dinge aufbringen, die ich selber beeinflussen kann.»
Staudenmann lebt in Bern mit seiner Freundin Anja Maurer (24) hat die Berufsmatura bestanden und legt derzeit die Passarelle ab – die Prüfung, die es ihm erlauben würde, an einer regulären Universität zu studieren. Was er studieren will? Für Staudenmann sonnenklar, für den Aussenstehenden aber sehr überraschend und nicht gerade typisch für das Nationalspiel, wo die Protagonisten dem Klischee nach als Käser, Landwirte oder Zimmerleute arbeiten: «Mathematik. Dieses Fach hat mich schon immer fasziniert. Es gibt nur richtig oder falsch – nichts dazwischen.» Noch stehen die mündlichen Prüfungen bevor – und am Dienstag nach dem Unspunnenfest erhält Staudenmann Bescheid, ob er bestanden hat. Staudenmann will nicht spekulieren: «Ein Bier werde ich danach auf jeden Fall trinken – entweder zum Feiern oder zum Verarbeiten.»
«Fabian ist eine liebevolle und lustige Persönlichkeit. Er hat guten Humor»
Anja Maurer
Zielstrebigkeit und Ehrgeiz
Mit beidem kann Freundin Anja leben. Die Pflegefachfrau sagt über ihn: «Fabian ist eine liebevolle und lustige Persönlichkeit. Er hat Humor – aber auch einen sturen Chopf.» Im Sport überzeuge er durch Zielstrebigkeit und Ehrgeiz: «Es gäbe für ihn keinen Grund, auf ein Training zu verzichten.» Luft nach oben gibt es aber in der Haushaltsarbeit: «Da kommt seine chaotische Seite zum Ausdruck. Fabian ist ein Meister im Herausschieben. Da gibt es definitiv Verbesserungspotenzial.»
Anja lacht, wenn sie dies erzählt. Sie hat Fabian in der Sekundarschule kennengelernt. Das war vor elf Jahren. Gefunkt habe es beim Skifahren in Adelboden 2019. Seither sind die beiden zu einem eingespielten Team geworden. Seit Fabian auf ein Management verzichtet, teilt sich Anja diese Charge mit Fabians jüngerem Bruder Julian (20): «So ist alles einfacher und unkomplizierter.»
Die Gene des Grossvaters
Wer nach Guggisberg kommt, der begegnet fast zwangsläufig Fabians Familie – und wer sie getroffen hat, kennt schon fast das halbe Dorf. Neben dem Bruder sind das Schwester Dominique (16) Mutter Angela (44) Vater Fredu (45) und die Grosseltern Gabriela (64), und Fritz Pfeuti (65). Der Grossvater war einst Spitzenlangläufer und gleitet heute noch unermüdlich über die Loipen. Und da wäre noch Gottikind Viviennene (4) die einen grossen Wunsch hat: «Nimm das nächste Mal den Muni – und nicht das Geld. Ich werde mich ganz sicher um ihn kümmern.»
Und last, but not least: Urgrossmutter Fides, 90, die alle nur «Tata» nennen und die heute nicht dabei sein kann. Sie hatte 1968 mit ihrem Ehemann Georg den «Sternen» gekauft und der Familie ein starkes Fundament geschaffen. Zu Tata hat Fabian eine ganz speziell enge Bindung. Für jeden gewonnenen Kranz erhält er von ihr fünf Franken – allmählich wird es für die Stammesälteste teuer.
«Götti, nimm den Muni! Ich will mich um ihn kümmern»
Vivienne, Göttikind von Fabian Staudenmann
«Hier rümpfen sie über die Gelehrten aus der Stadt die Nase»
Die Eltern von Fabian leben im liebevoll renovierten alten Waschhaus der Gaststätte, gleich auf der anderen Seite des Platzes. Diese kurzen Wege, die Schollenverbundenheit und das Urtümliche sind das, was Fabian an seiner Heimat so liebt: «Die Stadt Bern ist quasi das Gegenteil. Dort witzeln die Menschen über die Bauern auf dem Lande – hier rümpfen sie über die Gelehrten aus der Stadt die Nase.»
Fabian Staudenmann ist sozusagen beides – stolzer Bürger von Guggisberg und preisgekrönter Schwinger sowie gleichzeitig angehender Akademiker mit weitem Horizont. Seinen Werten will er treu bleiben. So hält er sich in den sozialen Medien bewusst zurück. Schliesslich sei er Sportler, nicht Influencer. Seinen Sponsoren sei er dankbar – ohne sie könnte er den Sport auf diesem Niveau kaum ausüben. «Doch ich trainiere nicht so hart, nur um 100 Follower mehr zu haben.»
Ein Ironman als Wegbereiter
Dass Staudenmann heute zu den ganz Bösen gehört und mit sieben Kranzfestsiegen in dieser Saison sogar den Rekord von Jörg Abderhalden (acht Erfolge) im Visier hatte – die Kranzfestsaison ist nach dem Unspunnen-Schwinget vorbei –, ist keineswegs selbstverständlich. Als Bub war er zwar im Skiklub und fing bald mit dem Schwingen an, aber seine Fitness sei erschreckend gewesen: «Ich schaffte keine zehn Liegestützen, konnte keinen Kilometer weit joggen.» Deshalb realisierte er bald, dass ohne eine strukturierte physische Basisarbeit nichts zu gewinnen war. Er zog den Berner Ironman-Triathleten Stefan Riesen bei: «Er war sechs Jahre mein Coach, bis ich 19 war, ihm habe ich viel zu verdanken.»
Heute ist der Schwingerkönig Matthias Glarner eine wichtige Bezugsperson für Staudenmann – im Athletikbereich, aber auch mental: «Ich bin oft bei ihm in Wilderswil, wir reden auch viel. Er sorgt dafür, dass ich nicht schon nach einer halben Minute ausgepowert bin.» Dies soll in dieser Saison nicht mehr geschehen. Staudenmann will seine Gegner nochmals reihenweise bodigen. Sechs Gänge führen zum Sieg. Es ist ein weiter Weg mit vielen Hindernissen. Göttikind Vivienne ist dies aber egal. Sie blickt Fäbu mit grossen Augen an – und hofft ganz fest auf den Muni.