Stimmt. Aber das ist nur eine Seite. Cédric Wermuth, 33, weiss, dass er «reizt». Dass viele sich über ihn aufregen. «Als Politiker ist mir das egal», sagt er. Als Mensch? «Nicht immer.»
Ein Spaziergang durch die Altstadt von Zofingen AG. Wermuth grüsst, manche Passanten grüssen zurück. Der ehemalige Juso-Präsident sitzt seit acht Jahren im Nationalrat und ist einer der profiliertesten Politiker der Schweiz.
Weniger bekannt ist, dass er zweisprachig aufwuchs und deshalb fliessend Französisch spricht – auch mit seinen beiden Töchtern. «Es klappt nicht immer, aber ich gebe mir Mühe.» Wir sind in einem kleinen Café angekommen. Wermuth trinkt Espresso und bestellt fürs Fotoshooting Zitronenkuchen. «Schokolade war mir schon als Kind ein Graus. Erst langsam mag ich sie.»
Während seiner Kindheit in Boswil AG war Politik allgegenwärtig. Seine Eltern luden Flüchtlinge nach Hause ein, hörten zu und halfen ihnen dabei, in der Schweiz zurechtzukommen. Ein «sozialer, fürsorglicher Sinn» sei ihm damals mitgegeben worden, wird sein Vater Otto Wermuth, 66, Heilpädagoge, später sagen.
Beim Wahlkampf für den Ständerat beruft Wermuth sich auf diese Wurzeln. «Mir ist wichtig, nicht immer nur zu reden, sondern auch zuzuhören.» Bei 60 Treffen stellte er sich den Sorgen der Bevölkerung. «Mit einem Bauern, der SVP wählt, habe ich Gemeinsamkeiten: Wir finden beide, dass die Krankenkassenprämien zu hoch sind.»
Inspiriert wurden diese «Triff den Wermuth»-Veranstaltungen von einer Gleichgesinnten. Alexandria Ocasio-Cortez ist derzeit die demokratische Überfliegerin in den USA. Wermuths Leute kooperieren im grafischen Bereich auch mit ihrer Agentur. «Beide Seiten wollen damit ein Zeichen setzen: Für die grossen Probleme unserer Zeit, wie die Migration und das Klima, brauchen wir eine Politik, die international zusammenarbeitet.»
Das Rennen um die Aargauer Ständeratssitze ist knapp – und nicht ohne Kontroversen. Viele nehmen Wermuth übel, dass er gegen Yvonne Feri, 53, antrat und so die Kandidatur einer SP-Frau verhinderte. Ist er ein Ladykiller? «Ich muss mich nicht rechtfertigen», sagt er, «die SP hat eine super Frauenquote, und als Partei tun wir alles, damit das so bleibt.»
Da ist sie wieder, diese selbstsichere Art zu antworten, das Kinn leicht angehoben. Von politischen Gegnern wird das manchmal als Arroganz ausgelegt. Wermuth widerspricht: «Ich bin unsicher und vor jedem Auftritt nervös.» Er kriege Kopfschmerzen, auch wenn er nur vor drei Menschen spricht. «Als Junge hat er viel überlegt und abgewogen», erinnert sich sein Vater. «Cédric ist keiner, der sich einfach hinstellt und sagt: So und so ist es.»
Schlagfertig war Wermuth allerdings schon damals. Als «sehr anstrengend» bezeichnen ihn seine Lehrer, aber auch als «interessiert». Sein drei Jahre jüngerer Bruder Yann sagt: «Wir waren ziemlich gut in der Schule und konnten es uns deshalb leisten, auch mal frech zu sein.»
«Meine Mutter hatte eine schwere bipolare Störung»
Die frechen Aktionen als Juso-Präsident brachten Wermuth mit Anfang 20 schon auf die Titelblätter der Zeitungen. Mit zehn Jahren Abstand sagt er heute: «Ich habe mich damals wohl auch etwas überhöht, mich als Promi gesehen.» Es tue ihm deshalb ganz gut, sagt er lächelnd, wenn seine Frau ihn frage, warum eigentlich ausgerechnet er der Richtige sei für den Ständerat.
Die Privatsphäre seiner Familie ist Wermuth wichtig. Mit der Schweizer Illustrierten spricht er zum ersten Mal über ein sehr persönliches Thema. Er möchte, dass Menschen mit einer psychischen Krankheit nicht länger tabuisiert werden. Denn: «Meine Mutter hatte eine starke bipolare Störung, früher nannte man das manisch-depressiv.»
Zu Hause bei Otto Wermuth: eine Mietwohnung in einem verwunschenen Haus mit Blick über Luzern. Otto und Yann haben sich auf Anfrage bereit erklärt, mit Cédric auch zu diesem Thema Auskunft zu geben. Als «fröhlich», «herzlich» und «überschwänglich» beschreiben die Brüder ihre Mutter, die vor fünf Jahren starb. «Eine Abenteurerin», sagt Otto Wermuth. Er hatte Laurence aus Lausanne bei der Arbeit kennengelernt, auch sie war Heilpädagogin.
Als Cédric in die Kantonsschule eintritt, wird seine Mutter krank. Es gibt Zeiten, in denen ihr die Motivation fehlt. «Und es gab Phasen, während deren sie Wahnvorstellungen hatte», sagt Wermuth. «Sie erzählte von Stimmen, vom Bösen in der Welt.» Mehrere Klinikaufenthalte bringen das Familienleben durcheinander. Dazwischen gibt es aber auch Jahre, in denen Laurence Ruhe hat und das Leben unbeschwert weitergeht. «Diese Krankheit ist nicht alles, was sie ausmachte», sagt Wermuth.
«Ich bin stolz, der Sohn meiner Mutter zu sein»
Wie viele Menschen mit einer bipolaren Störung unternimmt Laurence in schwierigen Phasen mehrere Suizidversuche. 2014 stirbt sie in Boswil bei einem Unfall in der Nacht. Bis heute sind die Umstände nicht ganz klar.
«Ich brauchte einige Jahre, um ihren Tod zu verarbeiten», sagt Wermuth. Inzwischen sei es für ihn in Ordnung, öffentlich darüber zu sprechen. «Ich bin stolz, der Sohn meiner Mutter zu sein. Dazu gehört ihre ganze Geschichte.»
Grausam: Wermuth erhielt schon Hassbriefe, in denen auch seine Mutter verunglimpft wird. «Ich habe eine dicke Haut», sagt er nüchtern. Das politische Interesse seiner Eltern prägte ihn stark. «Meine Mutter nahm uns mit, wenn sie politische Transparente gegen Atomwaffenversuche malte», erzählt der SP-Nationalrat.
Nun, da er selber Vater ist, möchte er seinen Töchtern die Sprache seiner welschen Mutter und die Erinnerungen an sie mitgeben. «Meine ältere Tochter fragt oft nach ihr.»
Er, der laut seinem Bruder Yann einen «klaren» Erziehungsstil hat («weit weg von Laisser-faire»), weiss, dass sein Wahlkampf für die Familie eine Belastung ist. Seine Frau ist Lehrerin und Übersetzerin. Sie unterstützt ihn – aber ihr «Lebenstraum» sei diese Kandidatur nicht, sagt Wermuth.
Ihm ist der Sprung in den Ständerat sehr wichtig, weil er der «Gegenentwurf zur bürgerlichen Mehrheit» sei. «Zu jenen, die sich gar nicht vorstellen können, wie schwer es manche Menschen haben.»