Dass man sich auf wichtige Gäste gebührend vorbereitet, ist normal. Dass man ihnen den roten Teppich ausrollt, kommt auch mal vor. Dass man diesen allerdings in letzter Minute noch mal austauschen muss, ist eher selten.
So geschehen vergangenen Dienstag vor dem Treffen von Joe Biden, 78, und Wladimir Putin, 68, in Genf. Aus Angst vor Fusseln in den Triebwerken von Bidens Flugzeug Air Force One wird ein fusselfreier Teppich am Flughafen verlangt. Für den Teppich, über den der US- und der russische Präsident für ihr erstes Gespräch in dieser Konstellation in der Villa La Grange schreiten sollen, gibts keine Sonderwünsche. Nur sauber muss er sein.
Einen Schockmoment erlebt hingegen Adeline Philippe. Die offizielle Blumen-Verantwortliche des Kantons Genf ist für den floralen Schmuck in der Villa zuständig, den sie mit 14 Schülerinnen und Schülern der Floristenschule Lullier zusammenstellt. Ursprünglich sollten die Bouquets die Farben haben, die in der russischen und in der amerikanischen Flagge vorkommen. Kurz vor dem Gipfeltreffen gibt es einen neuen Farbcode: Grün und Weiss! So duften die Bouquets in der Villa am Tag des Gipfels nach Rosen, Hortensien und Veronica.
Ansonsten ist es in Genf am Dienstagnachmittag noch erstaunlich ruhig dafür, dass gerade die ganze Welt ihre Augen auf die Stadt richtet. Sowohl Putin als auch Biden haben im Vorfeld zu Protokoll gegeben, dass das Treffen zu einem Zeitpunkt stattfindet, an dem die Beziehung der beiden Grossmächte an einem Tiefpunkt angelangt sei. Menschenrechte, Klima, internationale Konflikte – alles Themen, bei denen die beiden Staaten das Heu nicht auf der gleichen Bühne haben. Nur schon dass man sich die Hand reicht, wird als grosses Zeichen gewertet. Und dies auf Schweizer Boden.
«Dass sie überhaupt miteinander reden, ist ein grosser Schritt», sagt Regina Sevostiyanova. Die Journalistin des russischen Staatsfernsehens Rossija 24, die in Brüssel stationiert ist, wartet am späten Dienstagnachmittag vor dem Hotel Mandarin Oriental auf die russische Delegation um Aussenminister Sergei Lawrow, 71. Und windet Genf ein Kränzchen: «Die Stadt ist unglaublich gut vorbereitet. In Brüssel ist es jeweils viel schwieriger, an solchen Anlässen zu arbeiten.»
Etwa zur gleichen Zeit fährt ein Konvoi in Richtung Hotel Intercontinental. Joe Biden ist auf dem Weg zum Treffen mit Bundespräsident Guy Parmelin, 61, und Aussenminister Ignazio Cassis, 60. Als die Sirenen am Flüchtlingszentrum Rigot vorbeiheulen, wirft sich ein kleines Mädchen erschrocken in die Arme seines Papas. Mohammad beruhigt seine Tochter. Er ist Syrer, geflüchtet vor einem Krieg, in den Russland seit sechs Jahren eingreift – scharf kritisiert von den USA. Mohammads Vater und Bruder kamen durch russische Bomben ums Leben. Er hat auf Facebook von dem Treffen gelesen, bei dem auch seine Heimat ein Thema ist. Ob ihm das Hoffnung gibt? Mohammad zuckt die Schultern. «Es ist schön, dass Biden sich bemüht. Es wird nichts nützen. Ich traue Putin nicht.»
Kurz darauf treten die Bundesräte Parmelin und Cassis vor die Medien, um über ihr Zusammentreffen mit dem US-Präsidenten zu berichten. Parmelin spricht von einer «warmen Atmosphäre» und «einer grossartigen Gelegenheit für die Schweiz». Gerade mal 30 Minuten hat dieses Treffen gedauert. Für Joe Biden wohl eher ein kurzer Plausch am Rande, bevor er sich in seine luxuriöse Suite im 18. Stock des «Intercontinentals» zurückzieht.
Während es am Dienstagabend kaum ein Durchkommen im dichten Feierabendverkehr gibt, der sich rund um die Absperrungen bei den Hotels Intercontinental und Mandarin Oriental schlängeln muss, ist die Stadt am Mittwochmorgen wie leer gefegt. «Bleibt zu Hause», lautet die Order an die Genfer Bevölkerung. Die Gegend rund um die Villa La Grange, wo um 13 Uhr das Treffen angesagt ist, gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Wo die Polizei am Tag zuvor auch mal ein Auge zudrückte, ist sie heute strikt und sichtlich nervös: «Nicht stehen bleiben! Weitergehen!» Alle Läden, die sich in dieser Sicherheitszone befinden, müssen schliessen. Sie erhalten eine Entschädigung.
Knapp ausserhalb der Sicherheitszone befindet sich die Weinhandlung Lavinia von Claude Guy, 45. Ob ihn die besprochenen Themen interessieren? «Doch, doch. Wirklich gern würde ich allerdings wissen, ob Joe Biden unseren Wein versucht hat.» Falls ja, wäre es L’Esprit de Genève gewesen, ein lokaler Rotwein, der bei amerikanischen Touristen sehr beliebt ist – und den es im «Intercontinental» gibt. «Die Russen kaufen hingegen in erster Linie Cognac. Ob jemand meiner Kundschaft von gestern zu Putins Delegation gehört, kann ich nicht sagen. Möglich wärs.»
Um 9.20 Uhr startet Wladimir Putins Flugzeug in Sotschi. Währenddessen tröpfeln immer mehr Medienschaffende im Pressezentrum gegenüber der Villa La Grange ein. Die TV-Teams von BBC, Al Jazeera oder der ARD nehmen ihre Plätze ein, das Stimmengewirr aus Arabisch, Russisch, Englisch, Italienisch, Französisch, Japanisch wird immer lauter. Nur amerikanische Journalistinnen und Journalisten findet man kaum. «Die meisten von ihnen haben sich übers Weisse Haus akkreditiert und sind direkt mit Bidens Tross angereist», erklärt Mary Louise Kelly, 50. Die Journalistin und Thriller-Autorin berichtet für die US-Radiostation NPR (National Public Radio) aus Genf. Zuvor war sie unter anderem für CNN, BBC und die «New York Times» tätig. Für Aufsehen sorgte sie im Januar 2020, als der damalige Aussenminister Mike Pompeo ein Interview mit ihr unterbrach, weil sie unliebsame Fragen nach dem Verhältnis zur Ukraine stellte. Kelly hält das Treffen und Genf als Gastgeberstadt für «extrem wichtig. Die Herausforderung ist riesig, es gibt schwierige Themen zu besprechen.» Die Frage danach, ob der Schweiz eine Vermittler- oder «nur» eine Gastgeberrolle zukommt, findet sie sekundär. «Was immer auch herauskommt, dieser Gipfel in Genf wird in die Geschichtsbücher eingehen.»
Um 13.03 Uhr fährt Wladimir Putin mit einem scheinbar endlosen Konvoi vor der Villa La Grange vor. Joe Biden folgt um 13.16 Uhr. Handschlag, Lächeln. Ein gutes Zeichen? Als Putin gut viereinhalb Stunden später vor die Presse tritt – ein gemeinsamer Auftritt wurde offenbar von den USA abgelehnt –, bezeichnet er Biden als «konstruktiv, ausgeglichen und sehr erfahren». Er betont aber gleichzeitig, dass das Verhältnis «immer pragmatisch bleiben wird. Aber es muss ja auch nicht die grosse Liebe sein.» Biden bläst ins gleiche Horn. Man sei «keine alten Freunde», habe aber «einige Unklarheiten beseitigt» und es gebe «eine echte Aussicht, die Beziehungen zu verbessern». Die letzten Worte gehören den Schweizer Politikern. Guy Parmelin zeigt sich «sehr zufrieden» mit dem Gipfel, und Ignazio Cassis sagt: «Er war gut für die Glaubwürdigkeit und Sichtbarkeit der Schweiz.»
Und der Gipfel war gut für «Blumenfee» Adeline Philippe. Sie und ihre Helfer freuen sich über die TV-Bilder, auf denen «die Herren Biden und Putin neben unseren Blumenkreationen sitzen». Die bereits fertigen «falschen» Bouquets werden übrigens eingefroren und kommen zum Einsatz, wenn Genfer Behördenmitglieder 100-jährige Jubilare besuchen.