Sie spricht. Offen wie nie und ohne Blatt vor dem Mund. Über die Erfolge, die in der Schweizer Sportszene nach wie vor unerreicht geblieben sind. Über den Status, den sie in der Schweizer Öffentlichkeit lange hatte. Über das Verhältnis zur Mutter, die in den Augen mancher mit ihrem verbissenen Engagement dazu beitrug, dass ihre Tochter lange keine Sympathieträgerin war, wie es zu dieser Zeit andere waren. Über das Leben nach der Karriere, das lange chaotisch war, sich leer anfühlte.
Martina Hingis, 41, zeigt sich im gleichnamigen Dokumentarfilm «SRF DOK: Martina Hingis» so offen und nahbar wie kaum zuvor vor laufender Kamera – und packt aus. Was setzte ihr während der Karriere zu, worüber denkt sie heute noch nach, wie steht Tochter Lia zum Tennis? Die Ausführungen im Film sind zahlreich – doch die folgenden bleiben einem besonders im Gedächtnis hängen.
Das Verhältnis zur Mutter
«Im Alter von vier bis acht habe ich den ganzen Tag auf dem Tennisplatz verbracht.» Es sind Aussagen wie diese von Hingis, die zur Rolle ihrer Mutter Melanie Molitor, 64, die gleichzeitig ihre Trainerin war, in der Öffentlichkeit Kritik auslösten. Denn: «Die Schweiz war sich nicht gewohnt, dass man so konsequent mit den Kindern trainiert», sagt Molitors Ehemann Mario Widmer. «Damals war die Ansicht: Etwas Vernünftiges lernen, der Sport nebenbei.» Für Melanie sei es nicht einfach gewesen.
Und das war es auch für Hingis nicht. «Die härtesten Trainings waren immer mit der Mutter, darauf habe ich mich selten gefreut», gibt sie heute unumwunden zu. Denn was sie ausgemacht habe, sei «einfach die Konsequenz» gewesen. Oder wie es Martinas Ehemann Harald Leemann heute sagt: «Auf dem Tennisplatz ist sie knallhart – aber das macht sie auch aus.» So komme man zum Erfolg.
Diesen sucht Molitor früh – um ihrer Tochter etwas bieten zu können. Die Mutter flüchtet mit Martina aus der Tschechoslowakei, weg vom Kommunismus, dem «Eisernen Vorhang». «1980 gab es für meine Mutter wenige Möglichkeiten, mir ein besseres Leben zu bieten, die Freiheit zu erlangen, um die Welt zu sehen», wird ihr Martina viele Jahre später öffentlich danken. «Sie wählte den Weg des Tennis, um aus dem Gefängnis zu entkommen, in dem wir lebten.»
Dafür gibt Molitor ihr ganzes Herzblut – als Trainerin und als Mama. Auf dem Platz, da ist sich Sportarzt und Hingis-Ehemann Leemann sicher, sei Melanie Trainerin gewesen, neben dem Platz Mutter. «Melanie ist ein herzenslieber Mensch.» Für sie sei immer das Wichtigste gewesen, dass es Martina gutgehe. Molitor erzählt, dass sie mit Martina jeweils auf den Rollerblades die Städte erkundet hat, in denen Hingis spielte, denn sie war ja nicht nur Trainerin – was es allerdings auch nicht immer einfach machte. «Das Schwierigste daran war, dass sie meine Trainerin, meine Mutter und meine Freundin war», gibt Hingis zu. «Das immer unter einen Hut zu kriegen, war nicht einfach – und zu trennen auch nicht.»
Freundschaften auf dem Platz
Für Hingis war es «das normale Teenager-Leben», wie sie es nennt, 35 bis 40 Wochen im Jahr unterwegs zu sein. Doch dass sie Mama Molitor auch als Freundin bezeichnete, kommt nicht von ungefähr. «Es ist wahnsinnig schwierig für die jungen Mädchen, ein normales soziales Umfeld zu haben», sagt Martinas Stiefvater. «Bis unmöglich.»
Auch für Molitor ist klar: «Freundschaften kann man nur haben mit jemandem, bei dem die Hierarchieunterschiede gross sind. Dass man weiss, wenn man auf den Platz geht: Man gewinnt.» Mit ihrer damaligen Doppel-Partnerin Anna Kournikova habe Martina eine gute Beziehung gehabt. «Die Hierarchie war auch klar.»
Die Familienplanung
2017 hat Martina Hingis nach zwei Comebacks ihren definitiven Rücktritt bekanntgegeben – als amtierende Nummer 1 der Doppel-Weltrangliste. Sie hätte weiterspielen können, wäre weiterhin die Beste gewesen, ist Hingis' Ehemann überzeugt. Doch für Martina war der Moment gekommen. «Ich wollte auch», sagt sie. «Ich war 37, die Uhr tickt, als Frau wusste ich: Es ist das Richtige für mich in dem Moment. Das Leben geht weiter.» Mit Blick auf ihre zweijährige Tochter Lia sagt sie nun, fast fünf Jahre danach: «Und jetzt haben wir hier einen kleinen Schatz.»
Lia als künftige Tennisspielerin?
Mit ihren bald drei Jahren hat Hingis' Tochter Lia bereits drei Schläger vom Sponsor gekriegt, «manchmal schwingt sie damit rum», erzählt Martina. Doch «ob Lia auch mal Profi-Tennisspielerin wird, werden wir sehen», sagt Harry Leemann. «Die Voraussetzungen sind sicher super. Ich meine, wir haben die beste Trainerin als Grossmutter, der beste Sparring-Partner Martina, den medizinischen Hintergrund haben wir auch abgedeckt», zeigt er sich optimistisch. «Wir wollen ihr sicher die Möglichkeit geben, aber das heisst nicht, dass sie das machen muss.»
Martina pflichtet dem bei. «Das ist noch ein weiter Weg», sagt sie. «Die Anfänge sind mal da, die wollen wir ihr zur Verfügung stellen, aber was sie daraus macht, das ist ihr überlassen.» Momentan würde sie sich ohnehin eher für Prinzessinnen und Königinnen interessieren, fügt sie lachend hinzu.
Wenig Zeit zum Geniessen
Es erstaunt wenig, doch im Dokumentarfilm wird noch einmal deutlich, wie schnell die Erfolge an Hingis vorbeigerauscht sind. «Es ist wie eine Droge. Die beste Motivation sind Siege, und ich war sehr früh sehr erfolgsverwöhnt», sagt sie. Viel Zeit, um ihre Triumphe zu feiern, blieb allerdings nicht. «Meine Siege habe ich gefeiert, indem wir am Sonntagabend zusammen essen gingen», erinnert sich Martina. Etwas ganz Spezielles für den Teenager: Sie hätte ein Gläschen zum Anstossen gekriegt, «obwohl ich noch minderjährig war». «Das haben wir auch genossen, aber oft war es am nächsten Tag dann auch der Heimweg, das nächste Turnier, die nächsten Vorbereitungen, die wir getroffen haben – zum Geniessen hast du eigentlich gar keine Zeit.»
Die schönsten Siege
Martina Hingis hat so viel gewonnen. Doch zwei Siege bleiben für sie unvergessen. Zum einen der Sieg über Venus Williams im Halbfinale der Australian Open 2001. Denn nur einen Tag zuvor hatte sie deren Schwester Serena im Viertelfinale ausgeschaltet. Den Final wird Hingis zwar gegen Jennifer Capriati verlieren. Dennoch sagt sie heute: «Für mich war es einer der schönsten Siege, beide Williams-Schwestern nacheinander zu besiegen.»
Ein weiterer Sieg, an den sie sich gerne erinnert, ist derjenige im Doppel mit Sania Mirza in Wimbledon. 2015, nach ihrem zweiten Comeback, gewinnt sie ihren ersten von insgesamt elf weiteren Grand-Slam-Siegen im Mixed oder Doppel. «Wenn man mir vor drei, vier Jahren damals gesagt hätte: ‹Du wirst noch einmal Wimbledon gewinnen im Doppel›, hätte ich gesagt: ‹Du träumst. Was erzählst du für einen Seich?›», sagt Hingis. Um mit Tränen in den Augen und brüchiger Stimme anzufügen: «Diese Trophäe noch einmal zu stemmen, war schön.»
Der legendäre Paris-Final
«Was meinsch? Worüber möchtest du reden?», sagt Martina lachend, als das Thema French Open 1999 aufkommt. Der Final: legendär. Nicht nur, weil die damalige Nummer 1 Martina Hingis gegen ihre Vorgängerin Steffi Graf spielt und damit die zwei Besten gegeneinander, die das Tennis damals zu bieten hat. Sondern wegen Martinas Verhaltens.
Ein Ball, den Hingis für die Schiedsrichterin ins Aus katapultiert, sieht sie selbst im Feld. «Ich hatte den Match total in meinen Händen, habe mit einem Satz geführt – was hast du dir da überlegt?!», fragt sich Hingis heute selbst. Sie tut, was im Tennis ungeschrieben verboten ist: Sie geht auf die Seite von Gegnerin Graf, diskutiert lange mit der Schiedsrichterin, akzeptiert den Punktverlust lange nicht, woraufhin ihr ein Punkt abgezogen wird. Sie verliert den fast schon gewonnen Final. Und verschwindet vom Platz, ohne die Siegerehrung abzuwarten. Erst Mutter Melanie kann sie wieder auf den Court holen, zur Gesinnung bringen.
«Die Kombination von ‹Ich möchte mal die French Open gewinnen› und ‹Gegen Steffi im Final› hat sicher sehr viele Emotionen in mir geweckt», versucht sich Hingis heute zu erklären, ohne sich aus der Verantwortung zu ziehen. «Es war in dem Moment zu viel für ein 16-jähriges Mädchen. Das Publikum, das von Anfang an gegen mich war, was ich bis zu diesem Moment noch nie erlebt hatte. Ich habe nicht verstanden, weshalb sie so für Steffi waren, was natürlich alles andere nicht entschuldigt.» Die French Open hat Hingis nach der Niederlage 1999 nie mehr gewinnen können.
Die Medien und das Geld
Martina avanciert früh zum Weltstar, gewinnt mit 16 Jahren ihren ersten Grand-Slam-Titel. «Weltweit hatte ich die Anerkennung, die Wertschätzung von Sportlern ist ganz anders als in der Schweiz», sagt sie. Denn hierzulande kämpft sie lange ums Ansehen, darum, nicht nur als Produkt harter Arbeit durch die Mutter wahrgenommen zu werden. «Die beste Tennisspielerin der Welt – das hat man noch gar nicht begriffen in der Schweiz», sagt ihr Stiefvater.
Im Fernsehen wird das ausgeschlachtet. Der Teenager, der mit einem Scheck über eine Viertelmillion Franken nach Hause kommt – ein gefundenes Fressen. In Klosters wird ein Bauer befragt, woran sich Hingis noch gut erinnert. «Ein Teil verdienen sie mit arbeiten, einen Teil verdienen sie mit rumstehen», sei eine der besten Antworten, wie man das angeschaut habe, sagt sie. «Das Verhältnis Sport und Geld haben wir hier einfach noch nicht so gekannt.»
Der Aufstieg von Hingis geht schnell. Zu schnell, wenn es nach dem Gusto vieler geht. Denn je grösser sie wird, desto grösser werden die Ansprüche und die Massen an Menschen, die etwas von ihr wollen. Mit Folgen. «Die Schweizer Medien hatten schnell das Gefühl, sie hätte zu wenig Zeit für sie. Aber da muss man sich wieder vorstellen: Wenn man die Nummer 1 der Welt ist, hat man so viele Verpflichtungen, die Zeit ist nicht vorhanden für jedes Medium aus der Schweiz», erinnert sich Stiefvater Mario Widmer. «Das hat gewisse Probleme gegeben.»
Daran erinnert sich auch der langjährige SRF-Tennis-Experte Heinz Günthardt, der damals für das SRF im Einsatz stand. «Teilweise wurden wir übergangen, weil sie das Gefühl hatte, wir sind nicht so wichtig in diesem Sinne – was aber nicht stimmt.» Er glaubt, so sagt er, mit «wenigen kleinen Massnahmen da und dort wäre das Verhältnis ein anderes geworden». Doch die Situation ist und bleibt angespannt, wie auch Molitor sagt. «Sie haben angefangen, über uns oder mich negativ zu schreiben. Selbstverständlich hat man dann manchmal einen Rückzug gemacht.»
Doping-Chaos und Rücktritt
2007, bei ihrer Karriere nach dem ersten Comeback, hat Hingis schon ihre Sachen gepackt für ein Turnier in China, dann kriegt sie einen Brief. «Ich hatte zuerst einen halben Schock, ich habe es gar nicht verstanden, dass ich irgendwie … Doping», sagt Martina Hingis. An einer Pressekonferenz legt sie die Vorwürfe gegen sie offen. Viele Spekulationen ranken sich, wie das passieren konnte, doch: Bei Hingis wurde beim Turnier in Wimbledon «eine Substanz nachgewiesen, die entsteht, wenn man Kokain genommen hat. Eine winzige Menge von diesem Stoff ist gefunden worden», wie ihr Stiefvater erklärt.
Die Familie versucht, den Gegenbeweis anzutreten, heuert einen Professoren an, der feststellt, «dass im Abwasser von London so viel Kokainreste vorhanden sind, dass wenn sie Zähne geputzt hat, diese Substanz dann in ihrem Körper vorhanden ist», erklärt Widmer.
Hingis wird für zwei Jahre gesperrt. Und tritt zurück, weil mit einer bröckelnden Beziehung auch privat einiges aus dem Lot geraten ist. «Am Schluss ist immer der Wunsch nach Liebe, Geborgenheit – das hat auch irgendwo gefehlt. Mein Leben war ein Chaos», sagt sie.
Der Doping-Skandal ist «ein grosser Einschnitt in mein Leben» gewesen – zuerst hochgejubelt als Tennisspielerin, dann wird ihr vom einen auf den anderen Tag der Zugang dazu genommen. «Das waren die zwei schwierigsten Jahre meines Lebens.»
Bis heute beteuert Hingis, keine illegalen Substanzen genommen zu haben. Bis heute sucht sie nach Antworten. «Es hat mich natürlich während 13 Jahren jetzt beschäftigt, ich habe mich sehr mit dem Thema auseinandergesetzt», sagt sie. «Es gibt die eine oder andere Situation, bei der ich denke: Es hätte so sein können, es hat so laufen können. Aber diese Antwort werde ich wohl nie mehr im Leben kriegen.» An dieser Stelle streicht sie sich eine Träne aus dem Gesicht. «Ich würde es sicher gerne wissen.»
Roger Federers Anerkennung
Im Dokumentarfilm wird auch Roger Federer, 40, zu Martina Hingis befragt. Schon früh ist der Baselbieter mit dem Namen der Schweizerin in Berührung gekommen. «Ich bin ja fast gleich alt wie Martina, habe immer gehört von dem Super-Talent. Als ich sie spielen gesehen habe, das war unglaublich!»
Früh gewinnt Hingis Federers Anerkennung. Sie habe immer «unglaublich hart trainiert» mit ihrer Mutter. «Ich habe auch hart trainiert, aber niemals auf diesem Niveau», sagt Federer. «Melanie war sicher immer sehr hart, hatte ich das Gefühl, aber sie war immer sehr fair.» Und hart war auch Martina – zu sich selbst. «Für mich hat sie eine absolute Winner-Mentalität. Nur der Sieg ist gut genug. Sie kam hin und wusste: ‹Ich gewinne das Turnier.›» Er habe sich das angeschaut als junger Spieler und war begeistert von dieser mentalen Stärke, sagt Roger.
Der Weg an die Spitze: Roger konnte ihn bei Martina mitverfolgen. Ihre Fehltritte beobachten, um sie nicht selber zu machen. Sie hatte den Weg geebnet. Auch deshalb weiss der Maestro, dass er Martina viel zu verdanken hat. «Sie ist sehr wichtig gewesen für mich», sagt er. Und nicht nur für ihn. «Ich bin mega dankbar dafür, was sie für das Tennis in der Schweiz getan hat.»
«SRF Dok: Martina Hingis» am Donnerstag, 13. Januar 2022, 20.05 Uhr auf SRF 1