Wie von Geisterhand gelenkt, schiebt sich dichter Hochnebel vom Urnerboden hinauf zum Claridenstock am Klausenpass. Noch vor Minuten lockte in der Senke unterhalb des Gletschers der Griesslisee smaragdgrün, jetzt dümpelt er milchig-grau vor der Felswand. Jeannette Stangier-Bors (55) interessiert im Moment weder die Farbe des Wassers noch wie dicht der Nebel wabert. Die Sport- und Schwimmlehrerin aus Uster will nur eins wissen: «Wie viel Grad beträgt die Wassertemperatur?» Aus ihrem Rucksack fischt sie das Thermometer, versenkt es im Uferbereich – und macht sich in aller Ruhe daran, ihren Schwumm vorzubereiten. Der Gletschersee ist übersät mit Eisschollen. Das Thermometer im Wasser zeigt 1,1 Grad.
Von der Bergkuppe aus beobachtet eine Handvoll Wanderer in Daunenjacken ungläubig, was zu ihren Füssen geschieht: Jeannette breitet ein Badetuch über den Steinschutt, platziert daneben die regenbogenbunte Schwimmnudel, wirft sich einen geblümten Frottee-Poncho über, entledigt sich der Kleider und schlüpft in ihren knallroten Badeanzug. Kurzer Schreck, als sie die Badekappe überstülpt. «Mist, ich habe meine Ohropax vergessen!» Jetzt muss sie improvisieren, rollt sich aus Papiertaschentücherschnipseln Stöpsel und stopft sich die in die Ohren. «Ohne ins Wasser zu gehen, wäre sehr unangenehm und schmerzhaft», sagt sie, ehe sie schnurstracks in das kalte Wasser stapft. Ohne Zittern, ohne Bibbern. Nicht mal ein Schnaufen ist zu vernehmen. So wie andere sich fürs Ferienfoto im Wasser liegend am karibischen Sandstrand präsentieren, posiert die 55-Jährige an diesem Morgen im eisig kalten Griesslisee. Dann krault sie drauflos.
«Rauschts stark in meinem Kopf, muss ich schleunigst raus aus dem Wasser»
Jeannette Stangier-Bors
Mit Eisschwimmen beginnt Jeannette vor gut vier Jahren. Wobei sie schon zig Jahre eisbaden geht, sprich im Winter kurz ins Nass springt. «Das tat ich schon als Kind.» Auslöser, richtig mit Eisschwimmen zu beginnen, ist die TV-Doku «Gegen die Strömung» von 2017 über die Britin Beth French (44) die sich als Schwimmerin einer der grössten sportlichen Herausforderungen stellte: den Ocean Seven. Dabei müssen sieben Meeresengen weltweit bezwungen werden – eine der anspruchsvollsten Schwimm-Leistungen überhaupt. «Ich war fasziniert von dem, was ich sah», erinnert sich Jeannette. Vor allem die Bilder der Extremsportlerin beim Training im 3200 Meter hoch gelegenen Eispalast des österreichischen Gletschers in Hintertux brennen sich ihr ins Gedächtnis. «Das will ich auch, sagte ich mir.»
Als Trainingsort wählt Stangier-Bors für sich den vor ihrer Haustür liegenden Greifensee. Auf eine Luft- aufnahme des Strandbads Uster überträgt sie massstabgetreu die Schwimmstrecke aus dem Hintertuxer Eispalast: 102,61 Meter. Erstmals will sie die Distanz im November 2018 in Angriff nehmen. Knapp fünf Grad ist da das Greifenseewasser. «Nach nur drei Schwimmzügen dachte ich: Nö, das schaffe ich niemals, ich sterbe vor Kälte.» Doch Stangier-Bors gibt nicht auf. An jedem Trainingstag schwimmt sie einen Zug mehr. Zwei Winter später absolviert sie die 102,61 Meter am Stück, ist parat für den Hintertuxer Gletscher. Die Wassertemperatur dort wird nochmals zu einer Herausforderung für die Eisschwimmerin. «Diese liegt knapp unterm Gefrierpunkt, und du schiebst das Wasser an der Oberfläche wie Eisbrei vor dir her.»
In über 40 verschiedenen Schweizer Bergseen ist Stangier-Bors schon geschwommen. Ihr gros- ser Traum: einmal eine Eismeile (1602 Meter bei unter fünf Grad) im auf 2537 Meter über Meer ge- legenen 170 Meter langen Stellisee bei Zermatt VS schwimmen. «Logistisch eine Riesengeschichte, und ich müsste die Gemeinde Zermatt dafür gewinnen.» 26 Jahre war sie mit einem Zermatter verheiratet, 2020 trennte sich Jeannette von ihrem Mann Robert Stangier. Liess das Eisschwimmen die Liebe erkalten? «Das hat andere Gründe», versichert sie. Hin und wieder begleitet sie ihr Ex-Mann noch zum Sprung in einen Bergsee. Ihre Leidenschaft, schwimmend durchs eiskalte Wasser zu pflügen, geht ihm aber zu weit. «Er findet, ich übertreibe und sei etwas krass. Vielleicht hat er recht. Aber mir tuts gut, und ich liebe es.»
«Das Glücksgefühl lindert meinen Schmerz, wenn ich ins eisige Wasser gehe»
Jeanette Stangier-Bors
«Gar nicht gut» findet Jeannettes Mutter das Hobby der Tochter. «Sie sagt: Wenn ich dich als Baby badete, achtete ich darauf, dass das Wasser warm genug ist und das Thermometer nicht unter 36 Grad zeigte.» Heute empfindet Jeannette warmes Wasser «als dreckig». Ihre eigene Tochter Ellen (24) begleitete Jeannette zwar auch schon zu Wettkämpfen im Eisschwimmen. Doch zu sehen, wie ihre Mutter unter den Folgen der Kälte leidet, sei schwer auszuhalten gewesen. Nach dem zweiten Mal als «Medical Assistent» war deshalb Schluss für Jeannettes Älteste. Sie und ihre jüngere Schwester Nina, 22, begleiten jedoch – so wie ihr Vater und Jeannettes Ex-Mann – ihre Mutter hin und wieder zum Eis- schwimmen. Anfang Jahr holte Jeannette an der Eisschwimm-WM in Polen sogar die Bronze medaille im 500-Meter-Freestyle – bei gerade mal 2,3 Grad.
Als Jeannette an diesem Morgen nach sechseinhalb Minuten aus dem Griesslisee steigt, ist ihr von der Kälte zunächst nichts anzumerken. Rasch stülpt sie sich ihren Poncho über, entledigt sich des nassen Badeanzugs und schlüpft in Unterwäsche, Pulli, Socken und warme Daunenhosen. Ihre Kleider hat sie vorher penibel zurechtgelegt, die Reihenfolge, wann sie was anzieht, genau festgelegt. «Wenn ich aus dem Wasser rauskomme, muss es schnell gehen. Mir bleiben nur Minuten bis zum sogenannten Afterdrop.» So wird in der Medizin das weitere Absinken der Körperkerntemperatur nach einer Kälteexposition bezeichnet. Bei Jeannette machen sich nach zehn Minuten Symptome bemerkbar: Sie lallt beim Sprechen und hat Gleichgewichtsstörungen. Dass Jeannettes Körpertemperatur zeitweise von 36 auf 32 Grad absinkt, ohne dass sie ins Koma fällt, liegt einzig und allein daran, dass ihr Körper solche Temperaturen inzwischen gewohnt ist. Zudem trabt sie bei ihrer Hausärztin regelmässig an, um sich beim EKG und Blutdruckmessen durchchecken zu lassen. «Ausserdem, wenn ich mich nicht hundert- prozentig wohlfühle, gehe ich nicht ins Wasser», betont sie. Trotz aller Gewohnheit, bis heute empfindet Jeannette die Eiseskälte zu Beginn jedes Mal als «brutale Ganzkörperohrfeige».
Warm ums Herz wird ihr, wenn sie auf ihr Projekt «IceSwim4hope» zu sprechen kommt. Mit dieser Spendenaktion sammelt die Sport- und Schwimmlehrerin mit ihrem Hobby Spenden für die Stiftung Sonnenschein. Deren Unterstützung erfuhr sie selbst einst, als bei ihrer Tochter Ellen im Jugendalter Krebs diagnostiziert wurde. «Mein Ex-Mann und ich waren damals so dankbar und froh für die unkomplizierte Hilfe, die wir erfuhren. Deshalb möchten wir der Stiftung etwas zurückgeben.» Tochter Ellen gilt heute als geheilt. So plötzlich der Nebel aufgetaucht ist an diesem Morgen, so rasch löst er sich auf. Vorm Rückmarsch zum Parkplatz auf der Klausenpasshöhe blickt Jeannette noch einmal auf den wieder smaragdgrünen Gletschersee und juchzt: «So schön wars, aber jetzt freue ich mich auf heisse Nüdeli und darauf, mich auszuruhen.» Kalt ist ihr immer noch. Erst nach einer Stunde Fussmarsch murmelt sie: «Jetzt ist mir langsam wieder warm.»