Geschafft! Am Montagnachmittag steigt Maksym Kovalenko, 39, in Zürich aus dem Auto. Hinter ihm liegen 3888 Kilometer Fahrt, 68 Stunden durch fünf Länder. Er ist glücklich: Seine Mutter und seine Schwiegermutter sind in Sicherheit. In der Schweiz. Weit weg vom Krieg in der Ukraine. «Das ist für mich das Wichtigste.» In den Tagen vor seiner Abreise ist der ETH-Professor unruhig, verfolgt rund um die Uhr die Nachrichten. Hofft und bangt um sein Heimatland. Mit seiner Ehefrau Maryna Bodnarchuk, 40, überlegt er, wie sie ihre Mütter zu sich holen können. Die russischen Truppen marschieren vor, Putins Raketen schlagen ein. Flüge werden gestrichen, Züge fallen aus. «Da war für uns klar: Ich muss sie selber holen.»
Alleine in der Ukraine
Kovalenkos Mutter Natalia Harabazhiy, 64, und seine Schwiegermutter Maria Bodnarchuk, 82, leben beide alleine in der Region Bukowina, am südwestlichen Zipfel der Ukraine. Mama Natalia ist Ärztin und seit vier Jahren pensioniert, sie arbeitet aber immer noch ab und zu im Spital. «Ich hatte nicht allzu viel Zeit, mir Sorgen zu machen», sagt sie. Schwiegermama Maria ist pensionierte Lehrerin. Ihr Ehemann starb vor zehn Jahren, seitdem lebt sie alleine. «Jeden Tag spürte ich mehr Panik in meinem Wohnblock. Viele Nachbarn packten und flüchteten. Das machte auch mir grosse Angst.»
Maksym Kovalenko stammt auch aus dieser Region. «Ich hatte eine wundervolle Kindheit. Sehr einfach, aber friedlich», sagt der Mann mit den buschigen Augenbrauen und der tiefen Stimme. Er studierte Chemie in Czernowitz. Hier lernte er seine grosse Liebe Maryna kennen. Sie heirateten nach dem Abschluss und zogen nach Österreich und später in die USA. 2004 kam ihre Tochter Viktoriya zur Welt. Seit 2011 lebt die Familie in Zürich, wo Kovalenko als Professor an der ETH forscht. Vor drei Jahren gewinnt er den renommierten Rössler-Förderpreis.
25 Stunden bis zur Grenze des Krieges
Es ist Freitagabend, kurz nach 20 Uhr, als Maksym und sein Freund Kostia losfahren. Von Zürich über Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien bis nach Moldawien. «Pausen haben wir nur zum Tanken oder Kaffeetrinken gemacht.» 25 Stunden nachdem die Männer die Schweiz verlassen haben, erreichen sie die Grenze des Kriegs in Europa.
In der Ukraine müssen die beiden Mütter derweil innert einer Stunde ihr ganzes Leben in einen Koffer packen. «Ich hatte leider keine Zeit, die Familienfotos mitzunehmen. Und ich wollte noch meiner Schwester Adieu sagen. Vielleicht zum letzten Mal …», erzählt Maria Bodnarchuk, eine Träne läuft ihr über die Wange. Enkelin Viktoriya Kovalenko, 17, reicht ihr ein Taschentuch und sagt: «Ich hatte Angst, dass sie es nicht schaffen.»
Eine Bekannte fährt die beiden Damen über die moldawische Grenze. «Ich bin tief berührt, wie hilfsbereit die Menschen in Moldawien sind. Sie gehören zu den ärmsten Leuten in Europa, trotzdem haben sie uns Essen und Wasser angeboten», sagt Maria Bodnarchuk. An der Grenze treffen sie die Retter aus der Schweiz.
Zivilisten gegen Panzer
«Putin ist ein Psychopath – er wird nicht so schnell aufgeben», ist sich Maksym Kovalenko sicher. «Aber ich glaube nicht, dass er mit so grossem Widerstand gerechnet hat.» Tausende Zivilisten kämpfen gegen Panzer, Präsident Wolodimir Selenski harrt in Kiew aus. Maryna Bodnarchuk sagt: «Wir sind stolz auf unser Volk und unseren Präsidenten.» Sie trägt nun jeden Tag die ukrainische Flagge als Halstuch. «Das gibt mir Kraft.» Maksym nimmt mit seinen Studenten an Demonstrationen teil, und zusammen sammeln sie Geld für medizinische Hilfsgüter. Die beiden Seniorinnen werden vorerst bei ihrer Familie in Zürich bleiben. «Ich bin einfach glücklich, dass sie bei uns in Sicherheit sind», sagt Maksym Kovalenko.