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Schicksal wegen Bergrutsch in Schwanden GL

Familie Heftis Haus ist verschüttet

In Schwanden GL steht die Zeit still. Nach dem desaströsen Murgang bangt auch die Familie Hefti um ihre Existenz. Ist ihr Haus je wieder bewohnbar? Den Töchtern bleiben nur zwei Stofftiere.

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ScSchwanden , Murgang, Abschrankung an Linth, in Richtung Haus von Familie Hefti, Vater Jürg (l), Tochter Lea, Tochter Sina, Mutter Bea

Sehnsucht nach Normalität: Die Heftis blicken im Zentrum von Schwanden durch die Absperrungen an der Linth zu ihrem Haus.

Nik Hunger

Das Glarnerland ist eine malerisch verträumte Region. Sattgrüne Wiesen, weidende Kühe. Der monumentale Tödi, der wie ein schneebedeckter Gigant über allem wacht. Die S-Bahn aus dem fernen Zürich trifft hier nur zweimal pro Stunde ein. Doch in Schwanden – einem Ortsteil der Gemeinde Glarus Süd – ist seit anderthalb Wochen nichts mehr, wie es war. Es scheint, als hätte jemand dem Leben den Stecker gezogen. Sandsäcke sichern die Häuser, Abdeckplanen und Gitter blockieren die Durchgänge. Zivilschutzbeamte kontrollieren, dass niemand die Sperrzone betritt: «Wir machen nur unsere Pflicht», sagen sie fast entschuldigend.

Geroell- und Schlammassen verdecken Haeuser in Schwanden, aufgenommen am Mittwoch, 30. August 2023. Wie die Kantonspolizei am Vorabend mitteilt, zieht sich der Erdrutsch auf eine Laenge von rund 400 Metern hin. (KEYSTONE/HANDOUT/Gemeinde Glarus Süd)

Naturgewalt: Alle Häuser zwischen Schuttkegel und Fluss sind geräumt. Das Daheim der Familie Hefti liegt rechts des Murgang- Ausläufers direkt an der Strasse.

keystone-sda.ch

«Die Natur hat sich gerächt»

Der Moment, der die Idylle zerstört hat, liegt rund anderthalb Wochen zurück – am Dienstag, 29. August, nachmittags. Hans-Ulrich Vontobel, ein ehemaligen Älpler, der die Natur wie seine Hosentasche kennt, sitzt auf dem Dach der Altersresidenz Privama und blickt ungläubig auf die andere Talseite. Noch immer erinnert er sich mit leichtem Schauern: «Der Regen hatte nachgelassen. Aber um 16.50 Uhr begannen die Bewegungen im Gelände – um 17.04 rutschte der ganze Hang ins Tal. Es war, als hätte sich ein Krake durch die Gassen und Strassen ausgebreitet.»

Es sei gespenstisch still gewesen. Man habe nur die mitgerissenen Bäume knacken hören – und Krähen schreien: «Die Vögel haben ihre Wohnung verloren. Nur die Linde in der Mitte des Kegels ist stehen geblieben.» Der tief verwurzelte Baum habe dafür gesorgt, dass die Erde umgelenkt wurde. Vontobel spricht aus, was viele denken: «Die Natur hat sich gerächt – zu viel haben wir ihr in den letzten Jahrzehnten entrissen.»

Schwanden , Murgang, Mutter Beatrice (l), Tochter Lea, Tochter Sina, Vater Jürg Hefti, oberhalb ihres Hauses

Die Heftis halten zusammen: Mutter Beatrice, die Töchter Lea und Sina – und Vater Jürg: «Die Ungewissheit ist das Härteste.»

Nik Hunger

38 Gebäude sind betroffen. 90 Menschen müssen ihr Zuhause verlassen – darunter die Familie Hefti. Mutter Beatrice (52) eine selbstständige Unternehmerin im Baudienstleistungssektor, die hier aufgewachsen ist, schaut immer wieder ungläubig zu ihrem Elternhaus, das so nah – und doch unerreichbar ist: «Wir sind ausgesperrt. Es fühlt sich an wie eine unbeschreibliche Ohnmacht.»

Nur zehn Minuten zurück

Immer wieder wischt sie sich Tränen aus den Augen. Wenigstens kann die Familie am vergangenen Samstag für zehn Minuten zurück – begleitet von einer Feuerwehrfrau. Dabei nimmt sie mit, was unersetzlich ist: «Für uns Eltern Fotoalben und Dokumente. Für die Töchter je ein Stofftier, ein Clown und ein Hund, die sie schon ihr ganzes Leben besitzen. Und für meinen Mann Jürg die Imkerhosen.»

«Die Solidarität mit uns Betroffenen ist gross – sowohl im Kanton als auch ausserhalb»

Jürg Hefti

Der Aussenstehende hört betroffen zu – und stellt die naive Frage: Weshalb keine praktischen Dinge wie Kleider oder Alltagsgüter? Beatrice Hefti hat eine simple wie logische Antwort: «Das kann man kaufen. Erinnerungen kann man nicht kaufen.» Die Schwandnerin betreibt auch ihr Geschäft im Sperrgebiet – rund 20 Meter vom Wohnhaus entfernt. «Ich bin quasi doppelt betroffen», sagt sie konsterniert.

Tochter Sina (19) ist nach erfolgreich bestandener Matura erst kürzlich von einem Austauschjahr in Minnesota (USA) zurückgekehrt. Sie fühlt sich wie im falschen Film: «Alle meine Erinnerungsstücke sind im Haus. Ob ich sie je zurückerhalte?» Die jüngere Tochter Lea (16) geht in Glarus in die Kantonsschule. Was sie am meisten vermisst? «Mein Zimmer – und die Aussicht auf das Glärnischmassiv.»

Schwanden , Murgang

Schlamm und Erde breiten sich wie ein riesiger, bösartiger Krake im Dorf aus. Häuser wurden verschüttet, Autos mitgerissen.

HO

Doch die Heftis haben vorerst auch Glück im Unglück. Ihr Haus bleibt stehen. Und als die verheerende Erd- und Schlammlawine niedergeht, sind sie fast alle unterwegs: der Vater und Sina auf dem Heimweg, Lea im Volleyballtraining. Beatrice ist im Büro – und merkt erst, dass etwas nicht stimmt, als die Feuerwehr eintrifft. So oder so ist die Zäsur radikal: Als die Familienmitglieder am Morgen das Haus verlassen haben, war die Welt noch in Ordnung. Am Abend blicken sie auf das Unfassbare - und sind wie aus dem eigenen Leben gerissen: «Wir hatten nur die Sachen, die wir auf uns trugen.»

Hilfe bei der Sozialberatung

Nun wohnen die Heftis vorerst bei der Gotte von Jürg in Glarus – in einer schönen Wohnung. Nur Minuten nach dem Schadensereignis hat sich diese Lösung ergeben. «Die Solidarität ist gross – sowohl im Kanton als auch von ausserhalb», sagt Vater Jürg. Das hört Gemeindepräsident Hansruedi Forrer gern. Die Negativschlagzeilen, dass die Gemeinde die Hotelzimmer für evakuierte Bürger nicht mehr bezahlt, relativiert er: «Wir lassen niemanden allein. Die Unterstützungsangebote stehen. Die Betroffenen können sich bei der Sozialberatung melden – und dort wird ihnen geholfen.»

Schwanden , Murgang, Gemeindepräsident Hansruedi Forrer, auf Dach von ehemaligem Electrolux Verwaltungsgebäude

Hofft auf finanzielle Unterstützung in der Schadensbewältigung: Gemeindepräsident Hansruedi Forrer.

Nik Hunger

Zusammen mit Stabschef Hanspeter Speich schaut Forrer zum Unglückshang hinüber. Dort sieht es aus, als habe ein Riese mit einer monumentalen Hacke eine gewaltige Furche ins Grün geschlagen. Der Schuttkegel trennt den Dorfteil in zwei Hälften. Der Gemeindevorsteher schüttelt noch immer den Kopf: «Sogar die Fachleute wurden auf dem falschen Fuss erwischt. So ging es auch uns.» Über die Gründe der Katastrophe kann er nur spekulieren: «Es ist viel Wasser im Berg. Der Regen war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Schuttkegel riss alles mit – am Schluss türmten sich Balken, Bretter und ein Auto darauf.»

«Der Regen war wohl nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte»

Hans-Ulrich Vontobel

Zu den 38 Gebäuden, die betroffen sind, gehört die Werkstatt von Maler Henry-Jan Enkrott an der Herrenstrasse. Sein Betrieb ist vom Erdrutsch total zugedeckt – wie auch diverse andere Gebäude. Nach ersten Schätzungen bewegen sich die Schäden in Millionenhöhe. Und ein Ende sei noch nicht absehbar. «Glarus Süd wird die anfallenden Kosten nicht alleine stemmen können», sagt Gemeindepräsident Forrer.

Deshalb hat man ein Spendenkonto eingerichtet (IBAN CH16 0680 7430 1434 7456 5. Vermerk: Rutschung Wagenrunse, Schwanden). Das Wichtigste aber sei: «Niemand wurde verletzt – die Evakuierung hat gut funktioniert.» Dies sei auch der permanenten Auseinandersetzung mit der Natur zu verdanken. Im Glarnerland hat man im Verlauf der Jahrhunderte gelernt, mit solchen Ereignissen und den Einflüssen der Berge zu leben. So sind die Dörfer Haslen und Hätzingen auf Geröllkegeln erbaut.

Schwanden , Murgang, Herr Vontobel, Pensionär und Beobachter des Murgangs

Im fatalen Moment des Erdrutschs stiller Beobachter: Der frühere Älpler Hans-Ulrich Vontobel denkt, «dass sich die Natur rächt».

Nik Hunger

Und was geschieht mit den Menschen, die von ihren eigenen Häusern ausgesperrt sind? Wann kehrt die Normalität zurück? Jürg Hefti zuckt mit den Schultern: «Das wissen wir nicht. Diese Ungewissheit nagt an uns.» Sicher sei die Lage erst, wenn auch der Rest der Massen – rund 60 000 bis 90 000 Kubikmeter Fels und Erde – abgegangen sei.

Das kann morgen geschehen – oder erst in drei Monaten. So blicken die Heftis durch die Gitter zu ihrem Haus – und haben nur einen Wunsch: dass dieser Spuk so schnell wie möglich vorbeigeht und sie in ihre eigenen vier Wände zurückkönnen.

Von Thomas Renggli am 9. September 2023 - 07:00 Uhr