Im Dorf Ardez ist es ruhig. Die Kommunikation zwischen Oceana Galmarini, 27, und ihrer Mutter Helen, 62, ist ebenfalls still, aber lebhaft. «Gebärdensprache ist meine Muttersprache neben Deutsch und Rätoromanisch», sagt die «Schweiz aktuell»-Moderatorin, deren Eltern gehörlos sind. Vor 20 Jahren zog die Familie von Herisau AR ins Unterengadin, damit die im Snowboard talentierten Söhne, Nevin, 34, und Arno, 37, in Ftan das Sportgymnasium besuchen konnten.
Helen Galmarini, wie war es zu Beginn in einem solch kleinen Dorf?
Ich bin heute tatsächlich die einzige Gehör- lose hier. Zu Beginn war ich unsicher, weil mit Rätoromanisch eine neue Sprache dazukam. Zum Glück sprechen sie auch Deutsch, so konnte ich die Lippen lesen. Mittlerweile kenne ich natürlich alle Menschen hier und habe Freunde.
Waren Sie als Eltern von drei schulpflichtigen und hörenden Kindern gut integriert?
Ich kriegte natürlich nicht immer alles gleich mit, obwohl ich dies wollte. Das war schade und machte mich oft traurig.
Oceana Galmarini: Die Elternabende oder die Präsentation der Maturarbeit meines Bruders habe ich jeweils für meine Eltern übersetzt. Ich musste sicher ein paarmal aus meiner Komfortzone heraus. Vor die neugierigen Leute hinzustehen und meinen Eltern etwas in Gebärde zu übersetzen, fand ich früher unangenehm. Ich wollte diese Aufmerksamkeit nicht.
Sind Gehörlose benachteiligt?
Aus meiner Perspektive, die hörend ist und die Gehörlosenwelt gut kennt, sage ich: Ja, sie sind noch benachteiligt. Wieso machen viele Gehörlose nicht das Gymnasium? Weil der Zugang erschwert ist. Aber ich kenne neben der Generation meiner Mutter auch junge Gehörlose – da liegen Welten dazwischen. Die Jungen sind emanzipierter, stehen hin und kämpfen mehr.
Helen Galmarini: Ich habe eher im Sport als für die Gehörlosen gekämpft. Ich war früh im Skiklub, dann in der Nationalmannschaft. In diesem hörenden Umfeld ging es mir gut. Aber heute bin ich als Beisitzerin im Gehörlosenverein Graubünden aktiv.
Helen Galmarini wächst als ältestes Kind in einer hörenden Familie auf. Da ihr Vater eine Stickerei besass, lernt sie Stickerei-Zeichnerin statt ihren Wunschberuf Pflegefachfrau. «Ich war damals nicht stark genug, weder als Gehörlose noch als Frau», sagt die heutige Altenpflegerin. «Heute lebe ich bewusster und denke auch, dass ich Dinge kann.»
«Es ist die Kultur der Gehörlosen, die ich so liebe. Sie haben einen eigenen Humor, einen anderen Groove»
Oceana Galmarini
Helen, wie konnten Sie Ihren Kindern auch mal den Tarif durchgeben?
Mit meiner Mimik. Und meine Stimme kann durchaus auch laut werden.
Oceana: Meine Mutter ist nicht leise, schon gar nicht in der Küche mit all den Pfannen!
Gabs auch ein Radio oder einen Fernseher?
Radio nicht, aber einen TV, oft lief die «Tagesschau» oder «Sehen statt Hören». Und wir hatten ein Festnetztelefon und mussten für unsere Eltern Telefonate führen.
Aber mit 16 sind Sie ausgezogen. Hatten Sie deshalb ein schlechtes Gewissen?
Nein, denn ich habe auch eine Erwartungshaltung meiner Mutter gegenüber, weil sie eine erwachsene Frau ist. Ich sage ihr oft: «Das kannst du selber. Schreib ein Mail.» Das hat sie mittlerweile gelernt. Ich will auch, dass sie das Gefühl hat, dass sie es kann, und so selbstständig wie möglich ist.
Helen: Es geht auch. Aber es war einfacher und schneller, wenn du es gemacht hast (lacht).
Was bedeutet Ihnen beiden, eine Stimme zu haben, gehört zu werden?
Oceana: Für mich ist es eine Art Selbstverständlichkeit, eine Natürlichkeit, dass jeder Mensch das haben darf und auch haben sollte.
Helen: Für mich ist es ein Recht, die Meinung zu äussern, ob in der Politik oder im Beruf.
Oceana Galmarini zeigt mit Mutter Helen die fünf Gebärden
Wie verschaffen Sie, Helen, sich Gehör?
Ich fühle, dass ich bei der Arbeit in meinem hörenden Umfeld ernst genommen werde, fühle mich respektiert und werde auch nach meiner Meinung gefragt. Die Kommunikation ist aktuell jedoch wegen den Masken schwieriger geworden.
Wo muss noch mehr erreicht werden – für die Gehörlosen oder für die Frauen?
Ersteres: Die Gebärde ist noch nicht schweizweit anerkannt. Gehörlose und Hörende müssen wirklich gleichberechtigt werden, auch der Zugang zur Ausbildung, zur Universität, ist schwierig.
Oceana: Wenn ich nur auf mich und meinen Alltag schaue, dann spüre ich mehr Barrieren in der gehörlosen Welt als in meiner Welt als Frau, ganz klar. Doch wir Frauen sind auch nicht am Ziel.
Wie beeinflusst der Einblick in die Gehörlosenwelt Ihre Sicht auf die hörende Welt?
Oceana: Das damalige Hinstehen und ungewollt Aufmerksamkeit von anderen zu erhalten, hat mich zu einem stärkeren Menschen, zu einer stärkeren Frau gemacht – stolz auf das, was die Gehörlosen machen und wie sie kämpfen. Es hat sich gar gewendet: Jetzt stehe ich gerne hin.
Was ist das Schöne an der Gebärdensprache?
Es ist die Kultur der Gehörlosen, die ich so liebe. Sie haben einen eigenen Humor, einen anderen Groove. Sie sind direkter, nahbarer, lustiger.
Wird einander auch mehr zugehört?
Helen: Natürlich tausche ich mich mehr mit Gehörlosen aus, es ist mehr mein Daheim. Mit Hörenden sind bei mir die Gespräche viel kürzer und auch strenger. Lippen zu lesen, braucht viel Konzentration.
Oceana: Wenn jemand die Gebärde in Perfektion beherrscht, ist es für mich wie Poesie. Es sind Bilder, die sie skizzieren, ein Film, der läuft.