Die Stadt am Jurasüdfuss steht wie kaum ein anderer Ort für die Uhrenindustrie. Doch Grenchen hat auch direkten Kontakt zur Natur. Vor dem Restaurant Chappeli weiden Lamas. «Wer bei uns einkehrt, soll das Haus mit einem Lachen verlassen», sagt Gastwirt Christoph Köhli. Heute trifft dies definitiv zu.
Bundespräsident Guy Parmelin, 61, setzt sich gut gelaunt zu Lukas Gähwiler, 56, Verwaltungsratspräsident UBS Switzerland AG, Thomas Sommerhalder, 59, UBS Regionaldirektor AG/SO, Florian Baumgartner, 24, Elektroniker EFZ aus Biel und Student an der Hochschule für Technik Rapperswil, Berufsweltmeister 2019 und SwissSkills-Ambassador – und zu den SI-Leserinnen Arlette Bünger, 79, der pensionierten Prokuristin, sowie Nina Knapp, 25, Fachfrau Gesundheit und jetzt Kulturmanagerin in der Schützi in Olten. Stefan Regez, Chef Publikumszeitschriften von Ringier Axel Springer, begrüsst die Runde mit den Worten: «Wir reden Hochdeutsch.»
Guy Parmelin (lachend): Vielen Dank, das freut mich ausserordentlich.
Herr Parmelin, weshalb setzte der Bundesrat in der Coviddebatte die Zertifikatspflicht nicht schneller rigoroser durch?
Die meisten Kantone waren dafür, einige hatten Vorbehalte. 26 Kantone sind wie 27 EU-Staaten. Das ist unser Föderalismus. Aber anders als in anderen Fällen wollen die Kantone nun eine gemeinsame Lösung. Es macht wenig Sinn, dass beispielsweise in der Ostschweiz anders vorgegangen wird als im Wallis.
Lukas Gähwiler: Ich war in Kopenhagen in den Sommerferien. Es war interessant zu sehen, wie die Dänen mit diesem Problem umgehen: Am Flughafen wird das Zertifikat verlangt. In der U-Bahn tragen die Menschen Maske. Im Restaurant wiederum zeigt man das Zertifikat. Aber dann ist man sehr frei.
Parmelin: Verglichen mit Dänemark gibt es bei uns einen grossen Unterschied. Dort sind 75 Prozent der Menschen geimpft – das macht die Durchsetzung der Zertifikatspflicht leichter. Aber ich tue mich schwer damit, wenn eine Minderheit der Mehrheit die Meinung aufzwingt. Deshalb habe ich einen Appell lanciert, was jede und jeder Einzelne für das Land und die Bevölkerung tun kann.
Der SI Stammtisch ist eine publizistische Initiative der Schweizer Illustrierten und Illustré in Zusammenarbeit mit DEAR Foundation-Solidarité Suisse und UBS Schweiz.
Die Jungen sind tendenziell weniger geimpft. Wie sieht das in Ihrem Umfeld aus, Frau Knapp?
Für mich ist ganz klar, dass kein Weg an der Impfung vorbeiführt. Das Zertifikat ist eine Riesenerleichterung. So können Veranstaltungen wieder normal durchgeführt werden.
Florian Baumgartner: In meinem Umfeld sind fast alle geimpft. Das ist ein Riesenvorteil, gerade im Studium. Es ist sehr erfreulich, dass man zu den Vorlesungen wieder in den Hörsaal kann und im Alltag nicht ständig die Maske tragen muss.
Parmelin: Das freut mich zu hören. Ich habe ganz grundsätzlich nicht das Gefühl, dass sich die junge Generation um die Massnahmen und Impfempfehlung foutiert. Ich habe mit meinen 22- und 24-jährigen Neffen darüber gesprochen – und das Gefühl gehabt, dass die Impfung für sie nicht so wichtig ist. Erst als es um eine Reise nach Wien ging, änderte sich diese Einstellung.
Arlette Bünger: Meine Grossneffen sind alle geimpft. Und ich selber war eine der Ersten im Kanton Solothurn, die sich impfen liessen. Und ich würde mich sehr freuen, wenn sich mehr Menschen impfen lassen würden. Deshalb befürworte ich auch die Zertifikatspflicht in Restaurants.
Parmelin: Ich habe den Eindruck, dass sich mittlerweile mehr Leute impfen lassen wollen – vor allem dort, wo die Impfung einfach zugänglich ist. Ich habe in Freiburg beobachtet, dass der Andrang auf den Impfbus sehr gross war. Es gibt viele Menschen, die keinen Termin abmachen wollen. Können sie sich aber spontan für die Impfung melden, machen sie mit.
Bünger: Das habe ich auch festgestellt. In Grenchen etwa war es für viele Menschen sehr umständlich, als man für die Impfung zwingend nach Solothurn oder Olten fahren musste.
Thomas Sommerhalder: Meiner Meinung nach ist die Impfung der einzige Weg, um zur Normalität zurückzufinden.
Gähwiler: Es würde vielleicht helfen, wenn sich vermehrt Prominente als Botschafter für die Impfkampagne einspannen liessen …
Bünger: … beispielsweise die Fussball-Nationalmannschaft. Aber dies liess der Verband nicht zu. Deshalb ist es etwas peinlich, dass ausgerechnet der Kapitän Granit Xhaka positiv getestet wurde. Dabei könnten gerade die Spieler mit kosovarischen Wurzeln eine wichtige Vorbildfunktion übernehmen. Ich gebe als Seniorin an einer Primarschule noch punktuell Unterricht. Und wir mussten zwei Klassen schliessen. Grundsätzlich habe ich festgestellt, dass bei Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund oft eine grosse Skepsis besteht.
Gähwiler: Deshalb braucht es klare Zeichen. Vjosa Osmani-Sadriu, die kosovarische Staatspräsidentin, hat am Swiss Economic Forum in Interlaken ein flammendes Bekenntnis abgegeben und ihre Landsleute in der Schweiz aufgerufen, sich impfen zu lassen. Aber die Schweizer sind sich in der Frage selber uneinig. Wir sind bei uns urliberal – das ist gut so. Mich erstaunt allerdings, wenn ich von Frau Knapp höre, dass sich offenbar so viele Leute im Gesundheitswesen nicht impfen lassen.
Nina Knapp: Vielleicht denken viele in diesem Beruf, dass sie die Impfung nicht brauchen, weil sie jung und gesund sind.
Parmelin: Aber Impfungen gegen andere Krankheiten sind für uns selbstverständlich – zum Beispiel gegen Kinderlähmung, gegen Masern, gegen Hepatitis. In Afrika sind die Menschen dankbar, wenn sie etwas gegen diese Krankheiten in der Hand haben. Auch vor diesem Hintergrund ist das Zögern in der Schweiz schwierig zu verstehen – umso mehr, wenn wir die Zahlen anschauen. 95 Prozent der Leute, die wegen Covid ins Spital müssen, sind nicht geimpft. Dagegen beträgt der Schutz durch die Impfung über 90 Prozent.
Sommerhalder: Es war wichtig zu kommunzieren, dass viele ungeimpfte Menschen im Spital liegen. Das hat bei vielen etwas bewegt.
«Man darf die Berufslehre und den akademischen Weg nicht gegeneinander ausspielen»
Lukas Gähwiler
Reden wir über die Berufsbildung. Frau Knapp, weshalb haben Sie sich zur Ausbildung als Fachfrau Gesundheit entschieden?
Weil es eine wunderbare Ausbildung ist. Man erhält ein sehr breites Wissen vermittelt – und die Menschenkenntnisse steigen enorm. Ich habe mich aber nicht in diesem Beruf gesehen, weil ich keine Leidenschaft für die Pflege entwickeln konnte. Aber ich würde sofort wieder denselben Weg einschlagen – und mit der Pflege beginnen. Wie will man als 15-Jährige schon wissen, wo die Leidenschaft liegt – etwa in der Kultur und in der Musik?
Sommerhalder: Man kann diese Leidenschaft auch durch eine KV-Lehre für das Bankengeschäft entwickeln (lacht).
Bünger: Ich habe in St. Gallen die Handelsschule besucht – in den 1950er-Jahren. Für meine Eltern war dies ein gewisses Opfer. Denn damals ging es auch darum, dass man schnell Geld verdient. Die Allgemeinbildung, die wir an der Handelsschule genossen, war grossartig. Das habe ich bei den KV-Abgängern vermisst. Heute würde ich vielleicht eine Berufsmaturität anstreben. Aber mit meinem Weg bin ich sehr zufrieden. Denn ich ging jeden Tag mit grosser Freude arbeiten.
Baumgartner: Das trifft auf mich genauso zu. Ich spürte von Anfang an, wo meine Leidenschaft liegt. Zuerst besuchte ich das Gymnasium. Aber ich realisierte, dass mir der Praxisbezug fehlte – und dass ich einiges lernen musste, das ich später vermutlich nicht mehr brauchen würde. Um Elektroingenieur zu werden, hätte ich auch über die ETH gehen können, aber ich wählte die Berufslehre. Das war die beste Entscheidung meines Lebens.
Bünger: Ich hatte einst einen Chef mit ETH-Ausbildung. Der war nicht fähig, eine Lötstelle zu reparieren. Den theoretischen Hintergrund besass er. Aber die praktische Erfahrung fehlte ihm.
Gähwiler: Es ist schön, dass wir in der Schweiz die Wahl haben. Ich beispielsweise begann bei der St. Galler Kantonalbank als Lehrling – und habe heute auch einen tollen Job. Die Basis meiner Laufbahn ist lebenslanges Lernen. Aber es braucht auch die Konstellationen und das Glück, um erfolgreich zu sein. Kollege Sommerhalder dagegen schloss die HSG in St. Gallen ab.
«Viele denken, dass sie die Impfung nicht brauchen, weil sie jung und gesund sind»
Nina Knapp
Herr Sommerhalder, Sie sind der einzige Akademiker am Tisch.
Sommerhalder: (Lacht.) Ich kann auch anpacken und habe in meiner Kindheit gelernt, Gestelle aufzufüllen. Ehrlich gesagt, habe ich lange nicht gewusst, wohin mein Weg führen soll: Ich besuchte die Handelsschule, machte die Matura, begann zu studieren.
Gähwiler: Man darf nicht die Berufslehre und den akademischen Weg gegeneinander ausspielen. Das entspricht nicht unserer Philosophie. Bei den Bewerbungen schauen wir nicht, ob Frau oder Mann, ob Lehrabgänger oder Akademiker. Wir nehmen jene Person, die ins Profil passt und die besten Fähigkeiten mitbringt.
Sommerhalder: Ich war global tätig – und habe viele Länder gesehen. Und erst wenn man vom Ausland in die Schweiz blickt, erkennt man den Wert unserer Berufslehre.
Herr Parmelin, wie wird man als Weinbauer Bundesrat?
Wie erwähnt braucht es auch Glück. Ich wollte nach der Primarschule direkt ans Gymnasium. Nach 15 Tagen bemerkte ich aber, dass dies nichts für mich ist. Meine Eltern motivierten mich, trotzdem die Latein-Englisch-Matura abzuschliessen. Danach machte ich eine Landwirtschaftslehre. Und ich ging in die Deutschschweiz – das war für mich fast wie das Ausland (lacht). Dann habe ich als Meisterlandwirt während 20 Jahren Lehrlinge ausgebildet. Auf dieses Thema hat mich auch US-Präsident Joe Biden angesprochen. Er ist an diesem System extrem interessiert. Ich habe ihm unser duales Ausbildungssystem genau erklärt. Wir können in der Schweiz stolz darauf sein. In den USA haben sie in vielen Berufen je länger, je mehr Probleme, qualifizierte Leute zu finden, weil oft die praktische Erfahrung fehlt.
«Meiner Meinung nach ist die Impfung der einzige Weg, um zur Normalität zurückzufinden»
Thomas Sommerhalder
Herr Baumgartner, und wie wird man Berufsweltmeister?
Mit Leidenschaft und Ehrgeiz. Man muss den Berufsstolz spüren. Viele wissen gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Wenn sie Weltmeister hören, denken sie automatisch an Sport.
Gähwiler: Deshalb engagieren wir uns als Bank bei SwissSkills. Als die UBS 150 Jahre alt wurde, unterstützten wir die Universität Zürich mit 100 Millionen Franken für Spitzen-forschungsprojekte. Als ich dann mit Patrick Magyar (dem ehemaligen Chef von Weltklasse Zürich (Anm. d. Redaktion) beim Joggen war, kamen wir auf die Idee, dass die UBS als grosser Arbeitgeber auch die SwissSkills und damit die Berufslehre unterstützen sollte.
Parmelin: Auch wir übernehmen Verantwortung. Wir werden in den kommenden vier Jahren 28 Milliarden zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation bereitstellen. Gerade in der Krise haben wir gesehen, dass wir in der Schweiz besser dastehen als andere Länder. Und wir haben die Mittel, um die anstehenden Herausforderungen bewältigen zu können – auch dank dem dualen Bildungssystem.
Im Rahmen des SI-Stammtisches beleuchtet der Ende August frisch aufgelegte UBS-Wettbewerbsindikator jeden Kanton. Heute: Solothurn.
Der Kanton Solothurn weist im Schweizer Vergleich ein solides Wachstumspotenzial auf. In vielen wettbewerbsrelevanten Dimensionen schneidet er durchschnittlich ab und kann somit als repräsentativer Kanton innerhalb der Schweiz bezeichnet werden. Solothurn verfügt über eine breit aufgestellte Wirtschaftsstruktur und eine gute Erreichbarkeit von bedeutsamer Infrastruktur. Werden die einzelnen Regionen des stark verzweigten Kantons unter die Lupe genommen, so erweisen sich diese als verhältnismässig homogen. Lediglich Thal mit dem regionalen Naturpark hinkt aufgrund der schwächerer Branchenpositionierung und des kleineren Einzugsgebiets hinterher. Verbesserungspotenzial gibt es bei der Dimension Arbeitsmarkt: Der Anteil der Jugendarbeitslosigkeit liegt höher als im Schweizer Durchschnitt. Auch beim Kostenumfeld gibt es aufgrund relativ hoher Steuersätze für Unternehmen und Spitzenverdiener Luft nach oben. Hier wurde dank einer Senkung der Unternehmenssteuer die Lücke zu manch anderem Kanton etwas geschlossen.
Die Ökonomen Katharina Hofer und Claudio Saputelli sind die Autoren des UBS-Wettbewerbsindikators.