«Bleib schnell so», sagt der Schweizer- Illustrierte-Fotograf zu Thomas Leuenberger (63) während die beiden in Wohlen bei Bern im Kanadier-Kanu auf der Aare rudern. «Willst du mich provozieren?», fragt dieser lachend. Denn der Berner ist ein Zeit-Paradox in Person. Als Bühnenfigur Baldrian nimmt er den Titel des langsamsten Komi- kers der Welt für sich in Anspruch. Reden, jonglieren oder faszinieren – alles macht Baldrian in einem wohltuendem Tempo.
Handkehrum ist Schnelligkeit bei ihm omnipräsent. «Ich brauche das Wort ‹schnell› so viel, dass ich es mir schon abgewöhnen wollte. ‹Lueg schnäu›, ‹wart schnäu› sind bei mir eigentlich Schimpfwörter», sagt er in gemächlichem Berndeutsch. «Also habe ich diese Macke in meine Show integriert.» Fällt das Wort, muss er jemandem im Publikum einen Stutz zahlen.
Privat ist Thomas Leuenberger seiner Bühnenfigur bezüglich Tempo nicht viel voraus. «Nur beim Autofahren habe ich manchmal mehr Geschwindigkeit, aber bitte nicht weitersagen.» Mit seinem Kanu und seinem VW-Bus – «meiner Jacht und meiner Zweitwohnung» – frönt er gern der Gemütlichkeit, entschleunigt sein Leben, wo und wann immer es geht. «Ich schlafe gern direkt am Spielort.» Er kriecht auf den Beifahrersitz, hebt das Dach an – schwups ist das Schlafgemach bereit. «Schnäu, gäu?»
Seit 13 Jahren ist Thomas Leuenberger als Baldrian mit seiner Entschleunigungsshow unterwegs. Davor war er jahrelang Teil des Duos Flügzüg. Nun, da er langsam dem Rentenalter entgegenschreitet, geht er ab dem 15. September im Theater am Käfigturm in Bern auf Abschiedstour. «Die geht dann zehn Jahre», sagt Leuenberger schelmisch lachend. Nach 40 Jahren im Showbiz ist es für ihn unvorstellbar, seine Leidenschaft aufzugeben. «Ich will nicht pensioniert werden, das stresst mich nur.» Er sei froh, wenn die Pensionierung vorbei sei, «damit ich wieder ‹bügle› kann».
«Bügle» tut Thomas Leuenberger im doppelten Sinn. Eine seiner Hauptattraktionen heisst Gisela – eine silbrige ferngesteuerte Luftschlange mit zwölf Ballonkammern. Diese hat er, wie die meisten Requisiten, selbst hergestellt. Zwei Wochen dauert es, bis die Ballone aus Folie zurechtgeschnitten und luftdicht mit dem Bügeleisen verschweisst sind. «Gisela fasziniert und entschleunigt das Publikum», sagt er. «Mein Applaus ist weniger das Klatschen, sondern wenn die Leute vor Staunen still sind. Ich bin nicht der Klamauker.» Seine zweite Leidenschaft ist «Chempebiger». Seit Jahren fertigt er in seinem Atelier neben der ultraleichten Gisela auch Steinskulpturen an.
«Nehmen wir uns mehr Zeit, dann haben wir mehr davon»
Thomas «Baldrian» Leuenberger
«Wart schnäu», sagt Thomas Leuenberger und öffnet die Tür seines VW-Busses. Hier drin sind all seine Requisiten verstaut, allzeit bereit. Zwei, drei «Umbiigete», und schon hebt er Botox aus dem Kofferraum. Die ferngesteuerte Schnecke hat er selbst konzipiert. «Botox ‹fahrt im Fau huere schnäu›!» Zum Beweis gibt Leuenberger Gas, schon macht Botox Männchen. «Dank meinem Beruf kann ich ewig Kind sein», sagt der zweifache Vater und dreifache Grossvater.
2012 musste Thomas Leuenberger eine Vollbremsung machen. Als er einmal mehr mit dem Circus Roncalli in Deutschland tourte, merkt er, dass sein Körper energielos war. «Auf dem Velostreifen sorgte ich für Stau, hatte keine Kraft mehr ‹i mine Scheiche›.» Diagnose: akute Leukämie. Er muss sich dreimal einer Chemotherapie unterziehen, ist mehrere Monate ausser Gefecht. «Die damalige Erkrankung sehe ich heute als Bereicherung», sagt er. Denn in der schweren Zeit fand er mit Lachen sein eigenes Heilmittel. «Der Humor war eine meiner Ressourcen, die ich für den Selbstheilungsprozess aktivieren konnte.» Leuenberger schreibt daraufhin mit seiner Frau ein Referat, «Humor trotz Krebs». Noch heute wird er etwa an Fachtagungen für die Krebsliga und für Palliativveranstaltungen gebucht, oft kombiniert mit einem Baldrian-Auftritt. Zudem nimmt er seither am Race for Life (11. 9.) teil, dem Benefiz-Velomarathon zur Unterstützung Betroffener. «Weil ich die Wirkung von Humor in schwierigen Zeiten selber erlebt habe, kann ich die Erfahrungen nach aussen tragen.»
Leuenberger packt zusammen. Das geht ‹schnäu›. Den VW-Bus hat er sich nach seiner Genesung 2013 gegönnt. «Pure Freiheit für mich und meine Frau.» Der Tagesausflug mit ihm neigt sich dem Ende zu. Was bleibt, ist ein relaxtes Gefühl und eine Statistik: 48-mal fiel bei ihm das Wort «schnell». Paradox!